ARTIKEL 2022 /II
Blut oder Nektar
„Carmilla oder Das Zeitalter der Vampire“ im Theater Bern 26. 11. 2022
Schauspiel und Oper im Verbund: Die Bühnen Bern präsentieren ein grosse Projekt, was den Aufwand von Musikapparat und den Ensembles betrifft, aber auch im Hinblick auf ein Werk, das mit der alten und widergängierischen Vampir-Mythologie eine neue Welt anvisieren möchte. Eine zivilisationskritische und utopische Sicht knüpft der Autor, Textdichter und Komponist Jan Dvorak an die Novelle des irischen Schriftstellers Joseph Sheran Le Fanu und deren Protagonistinnen Camilla und Laura. Während die zur Vampirin emanzipierte Laura von der Mezzsopranistin Amelie Baier opernhaft verkörpert wird, geht Genet Zegay in der Rolle der Laura auf. Anders als in der Novelle wird die junge Frau auf der Berner Bühne am Ende selber zur Vampirin, und im musikalischen Pomp des Finales versichert sie uns, dass den Vampiren die Zukunft gehört. Die Rede dabei ist nicht mehr vom Blut, sondern vom Nektar, mit dem sich Schmetterlinge ernähren. Ob uns das gefällt, ist die Frage, dass „Carmilla oder Das Zeitalter der Vampire“ die Frage mit grosser künstlerischer Potenz stellt, aber nicht.
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Don‘t Worry, Be Happy
Zwei Winterthurer Institutionen im gemeinsamen Auftritt 18. 11. 2022
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – der Philosoph hat auch recht, wenn es um städtische Komponenten geht: Das Casinotheater und das Musikkollegium Winterthur. Im Extrakonzert am Freitag erlebte man die Addition des Komiker-Duos Lapsus und des Dirigenten Roberto Gonzalez-Monjas mit seinem Orchester, und dazu kam der Stimmkünstler Martin O., der mit seinem Loop-Instrument eine ganze Band ist. Alle drei brachten ihre Profession und ihr Können mit, gut für drei Veranstaltungen. Warum nicht an einem Abend ins Konzert gehen, am anderen ins Casinotheater? Und wo fand der Sandwich-Abend überhaupt statt?
Dass die Einladung da oder dort hingepasst hätte, ist der erste witzige Einfall: Lapsus bittet im ehrwürdigen Stadthaussaal Platz zu nehmen, der Dirigent meldet sich aus dem leeren Casinosaal, und von dort zeigt sich auf dem Handy-Displey auch Martin O. Der Abend beginnt somit konfus. Also spielt Lapsus mal die ulkige Jodel-Nummer, bis Martin O. per Scooter hereinrauscht und den Begrüssungs-Rap spasshaft in die Länge zieht. Dann endlich, hallo, das Orchester, das sich sogleich mit einer fulminanten Ouvertüre zu «Le Nozze di Figaro» ins Zeug legt und klar macht: auch Klassik kann Kapriolen.
Rasch finden die drei Sparten von der Konfusion zur Fusion. Martin O. kostet die orientalischen Melismen zu Mani Maters bekanntem «Sidi Abdel Assar» aus, und er fordert das Orchester heraus. Selbst der Dirigent wird genötigt, zur Geige zu greifen – ein Instrument, das Gonzalez ja nicht gleich richtig zur Hand zu nehmen versteht. Für die Nummer auf dem Laufband liefert das Orchester dann den galoppierenden Sound. Das macht so recht deutlich, wie musikalisch die sportiven Gags von Lapsus choreografiert sind.
Der «Cosmophonist» singt auch mal besinnlich «auf den Schultern von Generationen», und das Orchester setzt mit Ravels Pavane pour une Infante defunte ebenfalls einen ruhigen Kontrapunkt zum hyperaktiv-phlegmatischen Comedy-Duo. Mit der Musik zu «Titanic» und «Pirates of the Carebbean» kommt es dank Stimme und Mikrofon zum Spektakel aus Meeresrauschen und Sturm, und es kommt zum Luftgefecht, weil Lapsus nicht anders kann, als wieder auf die Bühne zu stürmen.
Auf abwechslungsreiche, immer wieder überraschende und witzige Weise finden so die drei so unterschiedlichen Sparten einen gemeinsamen Nenner. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – der Abend war spartenübergreifend und offerierte damit auch ein entgrenzendes Vergnügen: Don't Worry, be Happy, lautete die Zugabe – dem entsprach der fast ewige Beifall.
Wiederholung im Stadthaus Winterthur am 19. 11. 2022
Bild : © Herbert Büttiker
Bild : © Ilko Freese
Tragische Kulturgeschichte
„Madama Butterfly“ im Theater Winterthur 23. 9. 2022
Puccinis Gegenwarts-Oper, die er als „tragedia giappones“ bezeichnet, behandelt mit grossartiger Einfühlung das Einzelschicksal einer Geisha, aber dieses steht für den Untergang einer Kult. Das akzentuiert die Heidelberger Inszenierung, die in Winterthur zu Gast ist – und nicht in geringem Mass auch eine Winterthurer Eigenproduktion ist: Das Musikkollegium erweist sich einmal mehr als grossartiges Opernorhester.
Bild: © Susanne Reichardt
Erlösungswahn
„Der Fliegende Holländer“ in der Staatsoper Hamburg 23. 10. 2022
Eine Reis wert! Nach Hamburg lockt die Elbphilharmonie, und zur Musik kommt dort auch die spektakuläre Inszenierung, die dem Besucher die imposante Architektur bietet. Die Staatsoper liess einen am Sonntag Abend dagegen ganz auf das Spektakel auf der Bühne fokussieren. Für den „Fliegenden Holländer“ haben Michael Thalheimer und Olaf Altmann eine Inszenierung geschaffen, die das Stück ganz reduktionistisch hinstellt, aber auch ganz grundsätzlich befragt.
Bild: © Hans Jörg Michel
Leichtsinn und Revolution
Jacques Offenbachs „Barkouf“ im Opernhaus Zürich 27. 10. 2022
Wäre die Geschichte um den zum Gouverneur ernannten Hund Barkouf nicht absurd, und Offenbarchs ungeheurer Musikbetrieb nicht schlicht euphorisch und hedonistisch, wäre die erst 2018 erstmals wieder aufgeführte Opéra-comique eine Revolutionsoper. Im Opernhaus ist es alles mögliche, vom Variéte bis zur Grand Opéra und es ist Theater pur.
Frauenliebe und Verbrechen
Kammerversion von Saverio Mercadantes „Amletof“ im Theater Stok 28. 10. 2022
Die Oper im Knopfloch hat weder Raum noch Mittel eine Oper in authentischer Gestalt zu präsentieren, aber in der kammermusikalischen Reduktion macht sie auf unbeachtete Schätze aus den Archiven bekannt. Mit Saverio Mercadantes Hamlet-Oper von 1822 knüpft sie an die Produktion von 2018 an. Damals tauchte Niedermeryers grosse Oper „Marie Stuart“ im Knopfloch auf. Jetzt zeigte sich mit Geltrude (für Gertrude) nach Shakespeares „Hamlet“ als eine frühe italienische Variante der Mutter und Königsmörderin im Kellergewölbe des Zürcher Theater Stock. Das Melodramma, das die Primadonna ins Zentrum rückt, macht sie zur Hauptfigur und rückt Hamlet, eine Hosenrolle, an die zweite Stelle. Das mag unter der Prämisse einer Shakespeare-Oper irritieren, aber die Produktion macht deutlich, dass es sich auf seine Weise im Kern um ein beachtenswertes „Psycho-Kammerspiel“ aus melodischer Dramatik handelt.
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Aus dem Archiv: „Marie Stuart“ PDF
Bild : © Monika Rittershaus
Bild : © Bernhard Fuchs
Kleinbürger- und Weltdrama
„Anatevka“ – Gastspiel des Theaters Hagen im Theater Winterthur 4. 11. 2022
Das Musical von Jerry Bock und Joseph Stein mag vor mehr als sechzig Jahren auf die Broadway-Bühne gekommen sein – Unterhaltungswert und Botschaft haben nichts an ihrer Originalität und Frische eingebüsst, im Gegenteil – vor allem in der sorgfältigen Inszenierung und starken musikalischen Umsetzung des Theaters Hagen geht es unter die Haut, und es wirkt aktuell, auch wenn seine Gegenwartsbezüge nicht aufgepeppt werden und das jüdische Weltschicksal lange in die Hochzeitskomödie eingebettet ist. Ohne groses Spektakel, aber umso brutaler kommt das Böse auf die Bühne.
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Bild : © Björn Hickmann
Leichtes Schwergewicht
Konzert mit Julien Trevelyan (Klavier) und Michael Sanderling (Dirigent)
Musikkollegium Winterthur 9. November 2022
Seine Erscheinung, sein Auftreten widerspricht allem, was das abgenutzte Wort vom «Tastenlöwen» meint und von der «Pranke», die ein Pianisten gemäss Jargon haben muss, der sich an die Rachmaninows, Prokofiews und in diesem Fall eben an das 1. Klavierkonzert von Béla Bartok macht. Der Engländer Julien Trevelyan ist gerade vierundzwanzig geworden, weder ein Athlet noch ein Bühnentiger, so wie er vor dem Publikum steht. Dann aber Bartok: das Klavier als Perkussiosinstrument, der Dialog mit dem Orchester als Schlagabtausch, Klang als Energie. All das führt der junge Mann dann vor. Das Musikkollegium unter der Leitung von Michael Sanderling hält sich nicht zurück, der Solist behauptet sich – dies ohne alles Schwergewicht, eher aus dem Schwung, mit fabulöser Beweglichkeit und mit einer wie selbstverständlich wirkenden mentalen Präsenz, mit der es hier zu agieren und reagieren gilt. Das hatte etwas Bezwingendes, und wie Trevelyan nach der motorisch geprägten Parforce-Tour mit der Chopin-Zugabe den lyriscn-pathetischen Nerv und noblen Klavierklang strömen liess, offenbarte eine berührende weitere Seite des staunenswert begabten Musikers. Dieser spielt, wie man liest, in einem Streichquatett auch die Erste Geige, und neben der Musik hat er Universitätsabschlüsse. 2021 gewann Trevelyan beim Géza Anda Klavierwettbewerb den zweiten Preis, den Publikumspreis und die Auszeichnung für die beste Mozart-Interpretation. Das Zürcher Hochamt des Klaviers hat ihm die hiesigen Konzertsäle geöffnet. Beim Musikkollegium spielt er das Bartok-Klavierkonzert noch zweimal: Heute Abend in der Wiederholung des Abonnementskonzerts vom Mittwoch umrahmt von Werken von Mozart und Richard Strauss voller Musizierfreude und am Freitag im Rahmen der Konzertreihe «Thanks God it's Friday». Herbert Büttiker
Bilder: © Herbert Büttiker
Bild : © Toni Suter
Die Bühne als Wunderland
„Alice im Wunderland“ – Familienoper im Opernhaus Zürich 12. 11. 2022
Das junge Publikum will ernst genommen werden, auch wenn es sich um Nonsens handelt. Es soll grosse Oper erleben, ein Orchester mit allen Registern, Chor und Solisten mit bewährten Opernstimmen, die ganze Bühnentechnik mit raffinierter Beleuchtung, mit grossem Ausstattungsaufwand auf der Drehbühne – mit dem ganzen künstlerischen Einsatz eines grossen Teams. Das Opernhaus Zürich hat mit „Alice im Wunderland“ von Pierangelo Voltinoni und Paolo Madron, die schon mit dem „Zauberer von Oz“ für Zürich glücklich arbeiteten, seinen Anspruch offenbar voll erfüllt: ein eklatanter Erfolg mit einigem Szenen- und grossem Schlussapplaus.
Besprechung hier im Alice.pdf
Aus dem Archiv: „Der Zaubrerer von OZ“ (2016) Der Zauberer von Oz.pdf
Erinnerung an Katharina Hardy
19. 8. 2022
Die Premiere von Giovanni Battista Pergolesis Oper „Olimpiade“ im März dieses Jahres gehört zu den eigenartigsten Produktionen des Opernhauses Zürich, aber sie bleibt im Gedächtnis haften. Dabei geht es nicht nur um Pergolesi und seine wenig kohärente Darstellung auf der Bühne, sonder um eine in den Zeiten der Corona-Pandemie geborene Idee des Regisseurs David Marton. Porträts betagter, auch gebrechlicher Menschen im Gespräch über ihr Leben, ihren Alltag und ihre Beziehung zur Musik machten einen wesentlichen Teil seiner Inszenierung aus. Heute ist speziell an das Ehepaar Katharina und Ervin Hardy zu erinnern. Die Violinistin und Musikpädagogin ist am 7. August im Alter von 93 Jahren gestorben, ihr Mann, 101-jährig, zum Witwer geworden. Ihr Schicksal als Überlebende in den Konzentrationslagern von Ravensbrück und Bergen-Belsen hat Katharina Hardy, jüdischer Abstammung, erst in jüngster Zeit öffentlich gemacht. Gerade auch vor wenigen Monaten im Umfeld der Opernpremiere erfüllte sie mit ihrer bewegenden medialen Präsenz eine Mission jenseits der Musik.
Nachruf in „Der landbote“ vom 19. 8. 2022 hier
Besprechung „Olimpiade“ hier
Dokumentarfilm „Zeitzeugen der Zeitzeugen“
© Dokumenarfilm David Marton / Sonja Aufderklamm
Klang und Seele, West und Ost
Konzert des Tonhalle-Orchesters 14. 9. 2022
Die Verbindung von Musik des Japaners Toshio Hosokawa mit Anton Bruckners 8. Sinfonie scheint einem inneren Programm zu folgen. 2010 war es das Cleveland Orchestra, das am Lucerne Festival zusammen mit der Achten ein Werk von Hosokawa präsentierte, der damals den Preis der „Roche Commissions“ erhielt. Man mag den Kontrast der tonalen Architektur als Summe westlicher Musik gegen die Klangwelt zeitgenössischer Orchestermusik in Betracht zihen oder die Seele, um die es in beiden Welten geht.
Konzertbesprechung im PDF
Bild: © Herbert Büttiker
Diversity-Theater
Jospeh Bolognes Komödie „Der anonyme Liebhaber“ im Theater St. Gallen 18. 9. 2022
Eine Aufführung von Joseph Bolognes (Chevalier de Saint-Goeroges) wäre an sich schon ein ein verdienstvolles Unternehmen. Die Inszenierung überlagert das Stück aber mit der Biografie des dunkelhäutigen Musik- und Fechtgenies im späteren 18. Jahrhundert, und macht den Abend zu einem Plädoyer für Diversity.
Klare Bilder und Töne für ein raunendes Werk
„Die Walküre“ im Opernhaus Zürich 18. 9. 2022
Was sich Interpreten an Richard Wagners „Ring“ schon abgearbeitet haben. Mit der „Walküre“ zeigt sich nun noch deutlicher, dass es Homoki mit einem grossartig engagierten Ensemble und meisterlichem Regie-Handwerk gelingt, die Tetralogie ohne allen Ballast noch einmal frisch anzugehen.
Rückblick:
Aus dem Archiv: Zum Thema Wagner in Zürich, diverse Beiträge: pdf
Bild: © Edyta Dufaj
Bild: © Monika Rittershaus
Bilder der Dekadenz – nicht aus dem alten Rom
Francesco Cavsllis „Eliogabalo“ im Opernhaus Zürich 04. 12. 2022
Wenn Calixto Bieito auf dem Spielplan steht, so weiss man es seit langem, kann man das Opernhaus meiden oder sich einem düsteren und abgründigen, abstossenden oder auch nur absurden Bilderreigen aussetzen. Das ist mühsamer bei einem Werk, dessen Erzählung schon lange gemacht ist, leichter, wo es sich der Regisseur mit Neuem beschäftigt. Wer war Eliogabalo“, wer hat von dieser Oper gehört, und wieviel kreative Arbeit ist nötig, um eine nur im skelettartigen Manuskript erhaltene Oper überhaupt auf die Bühne zu bringen? Tatsächlich ist es eine Alternative, statt eine Barockoper zu simulieren, sich die Sache so vorzunehmen. wie Bieito im Programmheft sagt: „Wir kreieren alle gemeinsam eine Oper für heute mit barocker Musik.“ Was Bieito damit bietet, ist allerdings weniger Theater, das Gegenwart abbildet, sondern Theater, das einen heutigen Blick auf den Menschen ins Bild rückt, und Bieitos Blick ist schonungslos offen für das Abgründige im Menschen zu allen Zeiten.
Besprechung hier im PDF
„Eliogabalo“ ist Calixto Bieitos vierte Inszenierung am Opernaus Zürich. Vorausgegangen sind „Die Soldaten“ von Bern Alois Zimmermann, „Der feurige Engel“ von Sergej Prokofiev und „L‘incoronazione die Poppea“ von Claudio Monteverdi.
Bilder: © Monika Rittershaus
Zum Jahreswechsel
Rituale haben zum Glück ein zähes Leben.
Das gilt für die Bräuche der Silvesternacht auch, und deshalb ist auch
der alte Text von 2005 noch immer aktuell – besonders für Musikliebende,
die schon ans Neujahrskonzert denken. Dieses lässt sich zwar jeweils auch ohne Einführungstexte geniessen. Für gewisse Stücke und einfach
im Sinne der Allgemeinbildung (!) ist der folgende Hinweis
vielleicht aber willkommen.
Es gibt übrigens auch eine Moderato-Variante des Entkorkens:
Allegro und moderato wünsche ich allen Besuchern dieser Seite einen fröhlichen
und besinnlichen Jahreswechsel und für 2023 alles Gute!
Herbert Büttiker
Kontrastprogramme
Zu zwei Konzerten des Musikkollegiums Winterthur 1. 12. und 23. 11. 2022
Mit Joseph Haydns Sifonie Nr. 90 hat am vergangenen Mittwoch der junge amerikanische Dirigent Jonathon Heyward mit dem Musikkollegium Winterthur das Abonnementskonzert beschlossen, mit Joseph Haydns Sinfonie Nr. 83 hat nun Heinz Holliger das Hauskonzert vom Donnerstag eröffnet. Beides mal war es ein packendes Statement dafür, wie gegenwärtig lebendig die sogenannte «Klassik» heute im Konzert erklingt – im Falle Haydns vielleicht sogar lebendiger als in früheren Epochen: Dass derg-Moll Sinfonie Nr. 83 der Name« La Poule» anhaftet, versteht sich heute nur noch als historisches Missverständnis der elementaren Kraft dieser Musik. Heinz Holliger liess sie spüren, er strahlt mit seinen 83 Jahren auf dem Podium die Energie und den Durchblick für das Zügige Nach-vorn-Musizieren aus und für das Gewicht von Akzenten und sich aufbauender Entwicklung. Für das Hören bedeutete das reine Hingabe, und dies im letzten Programmteil, der Aufführung von Schuberts Sinfonie Nr. 5 noch einmal in glückhaftester Form.
Beide Konzerte, von denen hier die Rede ist, hatten aber auch Schwerpunkte, mit denen das Musikkollegium Winterthur sein Publikum den gewaltigen Sprung zum kompositorischen Schaffen von heute vermittelte. Im ersten war es das Konzert für Horn und Orchester von Wolfgang Rihm, dem Grossmeister der zeitgenössischen Musik, im zweiten war die Schweiz mit dem Doppelkonzert für Violine, Viola und kleines Orchester (2011/12) von Doyen Heinz Holliger im Spiel, dazu auch ein 2008 komponiertes und in diesem Konzert uraufgeführtes Werk des 2013 verstorbenen Altersgenossen von Holliger, Hans Ulrich Lehmann. «‹Contradictions› (James Joyce: ‹viola in all moods and senses› für Viola solo und Kammerorchester» lautet der ausführliche Titel.
Die drei Werke bieten eine breite Palette von dem, was als Komponieren für Sinfonieorchester à jour ist, was sie – im Kontrast zu Haydn, Schubert und all den anderen – vielleicht vermissen lässt und was sie mit der Erweiterung der Klang- und Geräuschszenerie interessant macht. Dass sich darin, wenn auch eher kaleidoskopartig fragmentiert, lyrische und virtuose grosse Schule entfalten kann, zeigten die Solisten, die sich souverän präsentierten: Der Hornist Ben Goldscheider im Werk von Wolfgang Rihm, Jürg Dähler als Solist für Lehmanns Viola-Stück und zusammen mit der Violinistin Hanna Weinmeister für Heinz Holligers Doppelkonzert.
Die ungewöhnliche Aufstellung für dieses Stück mit den Bläsern vor den Streichern und der Harfe am Bühnenrand liess schön verfolgen, wie sehr die herausfordernde Klangarbeit zur selbstverständlichen Kompetenz des Musikkollegiums gehört. Auch der Dirigent und Komponist schien mit dem Klangkörper sichtlich sehr zufrieden zu sein. Herbert Büttiker
Bilder: © Herbert Büttiker