„Tell“ in der Schweiz

Zur Premiere von Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“ im Theater St. Gallen     5. 5. 2024


Die eigenen Rezensionen von Rossinis  grosser und letzter Oper im Archiv bringen es wieder vor Augen: Der Mythos der Urschweiz scheint hier zulande eine  Verlegenheit zu sein, die auf Kosten der französisch-italienischen Rossini-Oper  „Guillaume Tell“ ausgelebt wird. Die schönste Erinnerung gilt der Aufführung unter freiem Himmel im Amphitheater von Avenches im Jahr der Expo.02, auch wenn sie im Regen unterzugehen drohte. Vor dem Finale floh das Orchester zum Schutz der Instrumente in die Garderobe, Nello Santi aber wollte nicht aufgeben, liess ein Keyboard auf die Bühne bringen und führte den Chor durchs hymnische Allegro maestoso zum grandiosen Schlussakkord – Soviel Heroismus scheint sonst nicht zum Umgang mit der fantastischen Partitur zu gehören. Im Opernhaus setzte Daniel Schmid 1987 das Stück in den Rahmen der frühen Fotografie mit süss kolorierten Bildchen und dem Alpenvolk im Orchestergraben. Das war immerhin gut gemeint als Reverenz an den Komponisten und seine Epoche. 2010 machte Adrian Marthaler das Werk, in dem Herzblut der Welt strömt, zur Lachveranstaltung mit EU-Truppen, die über den Schweizer Käse herfallen und die Toblerone mit dem Beil zerhacken. Es gab den prahlerischen Volkshelden, der sein eigenes Denkmal bewunderte und den gelangweilten EU-Statthalter so reizte, dass er ihn zwang, mit der helvetischen Gütesiegel-Armbrust seine Fähigkeiten zu beweisen.


In St. Gallen hält jetzt ein Statist einen zwei Meter langen Bogen ohne Sehne, Tell spannt seine Arme, von einem Pfeil keine Spur. Als Arnold brilliert der jungen Tenor Jonah Hoskins mit dem Strahl eines hohen C‘s, wie man es noch selten zu hören bekam. Aber zu seinem Ruf zu den Waffen, die Tell und sein Vater planvoll gehortet haben, schwenken die Männer dürre Stöckchen…



             Theater St. Gallen

             Gioacchino Rossini „Guillaume Tell“

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AUS DEM ARCHIV


Rossinis Oper basiert zwar auf Schillers Schauspiel, setzt die Gewichte aber anders mit Tell als dem Anführer auf dem Rütli, und mit Arnold und Mathilde als durch die politischen Verhältnisse getrenntes Paar im Zentrum.

Mehr dazu: LB 8. Juli 2002 „Warum nicht Schiller fragen? – Tell auf und neben der Expo.02“  PDF  und die Kolumne „Der Schütze Tell und die Schweizer Qualität“ (LB 1. Dezember 2007) PDF

Roberto Gonzalez-Monjas
Schön geht es weiter


Eine sehr erfreuliche Nachricht aus dem Musikkollegium – Roberto Gonzalez-Monjas hat den Vertrag bis Juli 2027 verlängert. Das ist schön für uns, wenn wir an die vielen Konzertereignisse zurückdenken und uns nun noch länger auf Weiteres mi ihm freuen können. Roberto  ist ein Ausnahmemusiker und -mensch, und er ist viel gefragt. Selbstverständlich ist die Vertragsverlängerung nicht. Der Grund, den er selber in der Mitteilung zitieren lässt, ist ein grosses Kompliment an das Musikkollegium:  «Ich fühle mich privilegiert, meine Zusammenarbeit mit dem Musikkollegium Winterthur bis 2027 zu verlängern! Das Musikkollegium Winterthur ist ein faszinierender Schnittpunkt zwischen hundertjähriger Tradition und kühner Moderne, ein Orchester von höchster Qualität, Raffinesse und Intelligenz, eine Institution, die sich für Exzellenz, Bildung und Gemeinschaft einsetzt. Ich könnte nicht stolzer darauf sein, zur Familie des Musikkollegium Winterthur zu gehören, und ich freue mich schon auf die nächsten Jahre des Musizierens, der Risikobereitschaft und der Inspiration.»


Fotoalbum Musikkollegium hier

Melomanie und Theaterdampf

„Les Misérables“ im Theater St. Gallen  21. 12. 2023


Von der Première am 9. Dezember hörte man begeisterte Reaktionen, jetzt läuft die Aufführungsserie bis Mitte Februar im Theater St. Gallen. Anschliessend geht sie nach München ans Theater am Gärtnerplatz und damit zum Produktionspartner der aufwendigen, aber auch schlackenlosen Inszenierung. Dle besuchte Aufführung vom 21. Dezember war eine der vielen Repertoire-Aufführung, aber von einer musikalischen Hochstimmung geprägt, als ob es die erste oder letzte gewesen wäre. Das Publikum reagierte ensprechend. Die Protagonisten durften für ihre Songs durchwegs Szenenapplaus entgegennehmen. 


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Satire mit Herztönen

„Olivo e Pasquale“  mit der Zürcher Kammeroper  31. 12. 2023


Sechzehn Jahr trennen „Don Pasquale“ von „Olivo e Pasquale“, der Opera buffa, die Gaetano  Donizetti in Rom 1827 zur Uraufführung brachte. Schon in dieser frühen Komödie fallen die lyrischen und emotional echten Töne auf, die der Komponist dem Brio entgegensetzte. Das Romantische hat im klassischen Muster der Opera buffa mit dem tyrannischen Papa, gegen die sich die Jungen mit ihrer Intrige durchsetzen, seine schlichte Formel. Sie heisst: Gegen die Liebe auf den ersten Blick ist kein Kraut gewachsen. Selbst der lyrische Tenor, der als generöser Weltmann daher kommt und den Blick auf die liebenswürdige Isabella wirft, sieht das so und akzeptiert, dass sie ihren Blick schon vergeben hat. Das Werk ist auch aus musikalischer Sicht entdeckenswert. Die Zürcher Kammeroper macht es mit einem hervorragenden Bühnen- und Instrumentalensemble und auf einem Zürcher Nebenschauplatz klar, im Gemeindesaal von Zollikon, der mit dieser Aufführungsserie bis 14. Januar zum Stadttheater wird. Wer italienische Oper liebt, erlebt da ein kleines Bühnenwunder.


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Ein originelles Konzept

„Le Chalet Suisse“  im Theater Biel-Solothurn  18. 1. 2024


Der Zufall will, dass es mit Donizetti gleich weitergeht, und dagegen kann man nichts haben: Der Bergamasker, der für Italien, Wien und Paris wie am Laufmeter eine ganze Menge Opern geschrieben hat, überrascht immer wieder, wie sehr er am Puls des Dramas, auf dem emotionalen Drive der Szene komponiert hat, und wie tief er ins Seelengetriebe seiner Protagonisten geleuchtet hat. Selbst eine Petitesse wie eine Farsa, eine einaktige Buffa oder ein kleines Dramma giocoso wie hier nun „Betly ossia la Capanna Svizzera“ hat die unverkennbare Signatur des traumwandlerischen Genies. Das Theater Biel-Solothurn gastiert nun im Theater Winterthur mit seinem konzeptionell originellen Abend, der Donizettis „Betly“ Adolphe Adams“ einstigem Hit „Le Chalet“ voranstellt. Da es sich um das mehr oder weniger identische Libretto handelt, war es eine schlüssige Idee, das Werk des Franzosen zur Probesituation umzufunktionieren und „Betly“, zweifellos das stärkere Stück, als Aufführung folgen zu lassen. Das hat seinen Witz und seine Schlüssigkeit, wenn auch der aktuelle Blick auf das Sujet, das 1834 bzw. 1836 Paris respektive Neapel eroberte, Fragen aufwirft.   


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Sand im Getriebe der Verdi-Oper

„Ernani“  im Theater St. Gallen  20. 1. 2024


Mit Sätzen wie "Der Wind bläst den Sand empor" beginnt die Aufführung. Ein "Engel" folgt Ernani auf Schritt und Tritt und unterbricht das Geschehen auch in den spannendsten Momenten mit poetischer Prosa. „Brevità e fuoco" forderte Verdi von seinem Librettisten Francesco Maria Piave, mit dem er für die Oper nach Victor Hugos Schlüsselwerk der romantischen Dramatik erstmals zusammenarbeitete. Entsprechend wenig überzeugend ist aus dieser Perspektive der Ansatz der von Barbora Horákovás Inszenierung, die Oper assoziativ aufzusplittern, nicht nur mit den Texten, sondern mit grossem Aufwand auch in optischer Hinsicht. Während die Regie den Hauptfokus auf den Verlierer Ernani richtet, bietet die Aufführung unter der Leitung von Modestas Pitrenas ein austariertes Konzert der Stimmen, mit dem Orchester auch ein so kraftvolles wie feinnerviges Hörbild der Oper insgesamt.


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           und:

           PDF-Roccosound





Mann, Frau und der ganze Zirkus

„Carmen“  im Theater Basel  3. 2. 2024


Carmen ist Georges Bizets populärste Figur, ein faszinierender Frauentyp gewiss, vor allem aber auch eine musikalische Attraktion dank ihren spanisch-folkloristisch inspirierten Auftritten. Der für die Opéra-comique geschriebene Fünfakter wurde ja sofort als grosse lyrische Oper verstanden, und das hat dann auch mit der sozusagen „höheren“ Opernkunst Bizets zu tun, den Arien von Micaëla und Don José. In deren Schicksal hat sich Bizet vielleicht mit mehr Aufwand eingefühlt als in dasjenige der Carmen, für die er sich auch auf eine vorhandene Melodien zurück griff. Aber Carmens innerstes scheint mit dem Hauch des Todes im Kartenterzett wenn auch kurz, so doch abgründig genug auf. Ihr Schicksal und dasjenige Don Josés erfüllen sich in einem einzigen Brennpunkt im Finale. Sie ist freilich das Opfer, er der Täter. Femizid ist heute der abschliessende Fachbegriff für den Skandal, der dieser Opernschluss bedeutet. Dieser richtet mit den letzten Takten aber den musikalischen Scheinwerfer auf Don José: „…c‘est moi qui l‘ai tuée! Ah! Carmen! ma Carmen adorée!“, sind die Worte der letzte musikalische Phrase der Oper. Tatsächlich, falls man den Begriff des Tragischen ins Spiel bringen möchte und damit den Konflikt aus Prinzip, so ist „Carmen“ die Tragödie des Mannes, der sich in den eigenen Widersprüchen seiner Beziehung zu Liebe und Sexualität zugrunde richtet. Am Wendepunkt seines Lebens bezeichnend ist auch, dass er eine Entscheidung unter Männern ist: Wie er sich von Carmen doch lossagt, sich dann aber durch das Auftauchen des Konkurrenten und Vorgesetzten, eifersüchtig und rebellisch, ins Abseits manöveriert gehört zur „Geschichte“, um die es in dieser Oper geht, in der Carmen für Don José zur Femme fatale wird. Was eine Regisseurin mit erklärt feministischem Ansatz daraus macht oder eben nicht macht, ist jetzt im Theater Basel zu sehen.


            

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Enge und Weite
„Jenufa“  im Theater Bern  28. 1. 2024

Mit der Besetzung aller Rollen, mit Chor und Orchester unter der Leitung von Nicholas Carter bietet das Theater Bern eine Janáček-Aufführung, die unter die Haut geht. Claude Eichenberger als Küsterin und Alžběta Poláčková als Jenůfa sowie Beau Gibson als Laca und Michał Prószyński als Števa verkörpern die Figuren, die das Libreto in der mährischen Dorfenge angesiedelt sieht, mit hoch expressivem Einsatz. Die Inszenierung lässt sich entsprechend nicht weiter auf die Milieuschilderung ein und zielt rigoros auf das Psychodrama – am Ende in die Weite, in die Janáček das Paar Jenůfa und Laca schickt.

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Das Studium der Männer

„Die lustige Witwe“ im Opernhaus Zürich  11. 2. 2024


„Das Studium der Weiber ist schwer“ verkünden di Männer im inbrünstigen Marschtempo in Lehars Operette „Die Lustige Witwe“. Dei Inszenierung des Opernhauses Zürich zeigt aber eine Hanna Glawari, die am Ende des Abends über die Männer doziert. Sie sind offenbar im allgemeinen einfach gestrickt (Verehrer), im speziellen (Danilo) ein schwieriges Studienobjekt. Danilo, ihr wichtigstes Fallbeispiel, lässt beides ahnen. Nach dem Happy-End verschwindet er gleich wieder aus ihrem Leben – oder die Inszenierung anders verstanden: Der Traummann war nur ein Traum. Barrie Kosky, sein Team und sein Ensemble beleuchten die Operette mit überraschenden Scheinwerfern.  


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Mimì in New York

„Rent“ im Theater St. Gallen  17. 2. 2024


Hundert Jahre nach Puccinis „La Bohème“ startete am Broadway Jonathan Larsons Welthit „Rent“, ein Rock-Musical mit dem selben Stoff als Grundlage, nur eben aus dem Paris des 19. Jahrhunderts versetzt in die New Yorker Bohème in den Zeiten von Aids und Heroin. Mimi verdient sich das Geld für den Stoff als Stripperin – auf der Suche nach dem Feuer für ihre Kerze betritt sie nun die WG auf der St. Galler Bühne, wo selbstverständlich immer wieder mal auch Puccinis Oper gespielt wird. Bezug und Kontrast erhellen sind für beide Versionen erhellend, und die Liebe zu Puccini bleibt.


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Expressionismus pur

„Turandot“ im Theater Winterthur  22. 2. 2024


Der Applaus war lang und verdient: Die Inszenierung von Giacomo Puccinis Oper „Turandot“, die das Landestheater Detmold im vergangenen September herausgebracht hat, machte am Freitag im Theater Winterthur Furore. Die Truppe ist mit grossem Chor, Orchester und einem starken Ensemble angereist. Chinesische Drachen, Requisiten und Accessoires hatte sie nicht mit einzupacken: Die Inszenierung zeigt eine expressionistisch-abstrakte und reduzierte Bilderwelt, sehr adäquat zum musikalischen Geschehen, dessen Format vom hervorragenden Dirigat des Detmolder Generalmusikdirektors Per-Otto Johansson bestimmt wird.


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Bild: ©    Matthias Jung



Die Geschichte zu

Roccosound“













Das Opernhaus Zürich präsentiert in der Spielzeit 2024/25 ein Programm mit deutlichem Abdruck der Intendanz von Andreas Homoki. Diese endet mit dieser Saison. Vieles ist Rückblick auf die 13 Jahre, in denen er am Haus auch inszeniert hat, und andere Produktionen sind geprägt von Wegbegleitern. Eine besondere Novität fällt ins diesem Raster auf: Die Inszenierung von Alfred Schnittkes satirischer Oper „Leben mit einem Idioten“. Der Regisseur ist Kirill Serebrennikov, der am Opernhaus „Così fan tutte“ aus dem Arrest heraus inszenierte, in den ihn Putin verbannt hatte. Das böse Stück um einen Schriftsteller, der zur Strafe mit einem „Idioten“ zusammenleben musste. Er durfte sich ihn immerhin aussuche, nur dass der „Gottesnarr“ sich bald als übles Subjekt entpuppte – was das heisst, war mit einem Gastspiel der Moskauer Kammeroper im Jahr 2000 zu erleben, als man den Idioten noch nicht gerade mit Putin identifizieren musste. 

AUS DEM ARCHIV

Zeitgeist und Moderne von gestern

„Amerika“ im Opernhaus Zürich 3. 3. 2024


Das Heilsversprechen, das vom Grossen Naturtheater von Oklahoma versprochen wird, sieht im Opernhaus Zürich sehr nach Krippenspiel im Comedy-Trash aus – Sebastian Baumgartens Inszenierung von Roman Haubenstock-Ramatis Musiktheater, das man nicht wirklich als Oper bezeichnen möchte, irrlichtert zwischen kafkaeskem Albtraum und bunter Groteske und immer wieder mit präzisem Bezug auf die Klang- und Geräuschmaschinerie im Orchestergraben und aus den zahllosen Lautsprechern. Die Frage nach dem Sinn lauert in den zwei pausenlosen Stunden in vieler Hinsicht. Und die Frage, was da „Moderne von gestern“ und Zeitgeist von heute den Abend bestimmt, ist nicht leicht zu beantworten.


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Bild: ©     Herwig Prammer



Die Tonhalle-Orgel im Fokus

Konzert des Tonhalle-Orchesters     6. 3. 2024


Die lettische Organistin, Titularorganistin der Hamburger Elbphilharmonie, ist Fokus-Künstlerin  der Tonhalle in dieser Saison. Diese Woche ist ihr Auftritt im Rahmen der Abonnements-konzert angesagt, und wie sich nun gezeigt hat, erlebt das Publikum einen tollen Auftritt mit ihr und der Orgel in der Aufführung von Francis Poulencs Orgelkonzert. Darüber hinaus sorgt das Orchester zusammen mit der Zürcher Sing-Akademie für einen grossen Konzertabend.


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Bild: ©  Herbert Büttiker



Unter Freunden

Die Reihe SonntagsKonzerte in Winterthur    10. 3. 2024


Ein besonderes Konzert in vielerlei Hinsicht: Zum einen Uraufführungen eigens für die Interpretin geschriebener Lieder, zum anderen die Präsentation von Werken einer einst erfolgreichen, heute vergessenen Komponistin, dazu hervorragende Interpretinnen und unter ihnen Persönlichkeiten, deren Schaffen man längst freundschaftlich begleitet: Alfred Felder hat Lieder auf Texte japanischer Tanka-Poesie geschrieben, Luisa Splett hat den Klavier-Part gespielt. Keine Unbekannte sind auch die Sopranistin Mélanie Adami und die Cellistin Andrea Sutter. Die Beschäftigung mit dem Gehörten gilt aber nicht Beziehungen, sondern musikalischen Eindrücken und Fakten.


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Energiebündel

Anu Tali und Sergei Dogadin im Musikkollegium Winterthur 13. 3. 2024


Der Konzertsaal war nicht sehr voll, es gab noch Plätze, aber er war übervoll von musikalischer Energie. Diese geht vom Protagonisten-Duo, das zusammen unterwegs ist, und im baltisch-russischen Raum gemeinsame Wurzeln hat. Der aus St. Petersburg stammende Geigenvirtuose Sergei Dogadin lebt heute in Wien und ist im Westen unterwegs. Im Abonnementskonzert des Musikkollegiums lässt sich sein spektakuläres Spiel erleben, brillant von den zartesten Finessen bis zum flutenden Klang. Das 1997 von Gidon Kremer uraufgeführte Violinkonzert des litauischen Komponisten Peteris Vask ist eine Plattform für alle spieltechnische Zauberei mit Bogen, Doppelgriffen, schwirrendem Flageolett, höchsten Regionen und G-Saiten-Melos. Und das Werk bietet auch weit mehr als das, eine emotionale Reise, dunkle und helle Energien, ein Lebensbild, das aus sphärischen Höhen kommt und am Ende zurück schwebt. Die Sätze des halbstündigen Stücks sind durch drei grosse Kadenzen gegliedert, und gehen pausenlos ineinander über – Dogadin meisterte den Kraftakt, der da im Ganzen gefordert ist, mit einer athletischen wie minutiös kontrollierten Präsenz. Die Begeisterung am Mittwoch war gross, und die Energie nicht aufgebraucht: als Zugabe folgte ein virtuoses Kabinettstück seines Wiener Kollegen Aleksey Igudesman, schwerelos, was den Gehalt betrifft, das volle Programm, was spielerisches Können und leidenschaftlichen Einsatz betrifft.

Die estnische Dirigentin Anu Tali, die nicht zum ersten Mal in Winterthur auftritt, hat auf eine Kontrastdramaturgie gesetzt, die wunderbar funktionierte. In der ersten Konzerthälfte waren nur die Streicher auf dem Podium, auch für das berührende kurze Werk ihres Landsmannes Erkki-Sven Tüür, das den Abend eröffnete, „Passione“, waren die Streicher mit ihrer subtilen Arbeit unter sich. Aber nach dem  Schwergewicht, das Vasks Violinkonzert in jeder Hinsicht war, folgte im zweiten Teil des Konzert ein vollkommener Klimawechsel. Der junge Felix Mendelssohn hat mit seiner 4. Sinfonie, der „Italienischen“  südlichen Lebensgeister gehuldigt, spritziges Temperament, sinnliche Harmonie ,tänzerische Ausgelassenheit – all dies war nun wie überraschend neu zu hören, und für die wirbelnden Flöten, schwärmerische Klarinetten und Goldklang der Hörner war man besonders empfänglich. Die Dirigentin sorgte mit lockerer wie präziser Bewegtheit für den Schwung, das Feuer und die inspirierende Atmosphäre des Stücks.


Wiederholung des Programms: Donnerstag 14. 3. im Stadthaus Winterthur

Bild: ©  Herbert Büttiker

J. S: Bachs „Matthäus Passion“

Musikkollegium Winterthur in der Stadtkirche    22. 3. 2024


Jede Aufführung von Johann Sebastian Bachs monumentaler Passionsmusik für zwei Chöre, zwei Orchester und Solisten ist ein Ereignis per se.  Dazu machte es auch das  Musikkollegium unter der Leitung von Roberto Gonzalez Monjas, auch wenn die Akustik der Stadtkirche die schwierigen Aspekte, die sich im solistischen Bereich bemerkbar machten, ungnädig verstärkte. Ein uneingeschränktes klangliches Fest boten Chöre und Orchester unter der animierenden Leitung von Roberto Gonzalez-Monjas.


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Eine zeitgenössische Passion

Kaja Saariahos „La Passion de Simone“  28. 3. 2024


Man kann es nur als grandiose Dramaturgie bezeichnen. Gerade eine Woche nach der Aufführung der „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach – die musikalische Repräsentation des fundamentalen Geschehens schlechthin – hat das Musikkollegium Winterthur zu einer weiteren Passion geladen: „La Passion de Simone“, ein Werk für Sopran solo, Erzähler, gemischten Chor und Orchester der finnischen Komponistin Kaija Saariaho (1952–2023). Dass die grosse Partitur (ca. 75 Minuten)  die Protagonistin Simone (Simone Weil, 1909–1943) als Nachfolgerin Christi beschreibt, zeigt ihre Unterteilung in fünfzehn Wege (Paths) – das Mass des Kreuzwegs in der katholischen Welt. Die Vergegenwärtigung von Simone Weills Lebensstationen in Zitaten und knappen Texten des libanesisch-französischen Schriftstellers Amin Malouf  ist zunächst ein Hörerlebnis von überwältigendem Reichtum an Klangfarbe und übersteigerter Harmonie, von bruitistischen Ausbrüchen und ätherischen Passagen.


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Die Liebe – ein Missverständnis 

Georges Bizets „Carmen“ im Opernhaus Zürich 7. 4. 2024


"Carmen" imOpernhaus Zürich, aber wie? Wie in etwa eine Inszenierung einer der populärsten Opern auszusehen hat, war einst keine Frage, aber auch schon lange muss man gefasst sein. Jüngst in Basel war Carmen mit Peitsche und feministischen Parolen beim Zirkus.  Andreas Homoki präsentiert nach seinem von Interpretation entlasteten „Ring“  nun auch eine untendenziöse Inszenierung des französischen Meisterwerks. Sie packt die Oper dort an, wo sie ihren Ursprung hat, auf der Bühne der Opera comique, und auch wenn das Kostüm dann vom 19. ins 20. Jahrhundert wechselt, bleibt es beim Ansatz, dass „Carmen“ eine kolossale Partitur ist, deren Musik nicht eine Geschichte untermalt, sondern in den Formen ihrer Nummern und im Schauspiel ihres Textes zur Geltung kommen soll. Da sind nicht Requisiten gefragt, sondern ein Ensemble, das die Figuren in Spiel und Stimme ausleuchtet. Mit Marina Viotti als Carmen, Saimir Pirgu als Don José, Natalia Tanasii als Micaëla als zentralem Dreieck und auch mit den weiteren Beteiligten steht ein hervorragendes Ensemble auf der nackten Bühne, die nichts anderes sein will als Bühne. Chor und Orchester in Hochform liefern die weiteren Energien, die Gianandrea am Dirigentenpult als weiterer Regisseur aus der Partitur zaubert.


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Zur erwähnten Inszenierung im Theater Basel: PDF

Bild: ©  Herbert Büttiker

Bild: ©  Monika Rittershaus

Grosser Auftritt des Fagotts

Die Solo-Fagottistin Valeria Curti im Musikkollegium       10. 4. 2024


Klare, gleichsam sprechende Artikulation, schlanke, kernige Tongebung und zumal im langsamen Mittelsatz sängerisches Gespür zeichnet Valeria Curtis temperamentvolles Spiel aus. Im Konzert des Musikkollegium brillierte sie mit einem Konzert von Antonio Vivaldi – dem fleissigsten Fagott-Komponisten der Musikgeschichte.


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„Der Ring“ macht die Runde

Zyklische Aufführungen und ein weiterer „Siegfried“   21. April 2024


Innert zweier Spielzeiten hat das Opernhaus Zürich Richard Wagners  Opernkoloss «Der Ring des Nibelungen" erarbeitet. Nun, im Mai wird die Tetralogie  zweimal in Folge aufgeführt und im Abonnement für den vierteiligen Zyklus angeboten. Zurück zum Ursprung laute eines der Leitmotive von Andreas Homokis Gesamtkonzept – und wie sich gezeigt hat, hebt sich die Inszenierung von vielen neueren dadurch ab, dass sie weniger auf neue Deutung aus ist als auf die Darstellung, die den Vorgaben folgt – nicht buchstäblich und nicht kulissenhaft, sondern theatralisch ideenreich umgesetzt.


Das Opernhaus Zürich ist nicht die einzige Schweizer Bühne, die mit dem «Ring» unterwegs ist. Ach das Theater Basel wir in der kommenden Spielzeit nach «Rheingold» und «Walküre» in der Saison 2024/25 seinen «Ring» komplettieren und anschliessend in drei vollständigen Zyklen präsentieren. Theater Bern lässt sich mehr Zeit und erarbeitete Spielzeit für Spielzeit eine der ja auch für sich stehenden Opern – immer ist da auch viel Rekapitulation mit komponiert. Eben war Premiere des «Siegfried» – eine Inszenierung, die vom mythologischen Bau mehr oder weniger noch das Handlungsgerüst übrig lässt und die Figuren mit Phantasie in einem aktuellen Kontext zeigt.


Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak gleicht das Geschehen mit der allgegenwärtigen Genderthematik ab – das im Finale gefeiert Liebespaar Brünnhilde und Siegfried (Jonathan Stoutghton und Stéphanie Müther) sind von der Kostümbildnerin mit schwarzem  Jackett  Hose gleich eingekleidet , und beide tragen sie lange offene Haare. Der  Drache, Wagners träger Hüter des Goldes, ist hier der hedonistische Protagonist der Wohlstandsgesellschaft und Partykönig, um den herum ein bunter Gendermix trinkt und tanzt. Siegfried nimmt da eher Anteil als sich das Drachentöten zur Aufgabe zu machen. Ein dummer Streit artet wie manchmal in der Ausgangsmeile am Samstag Abend in eine Messerstecherei aus. Wagners humorig problematische Differenzierung von Über- und Untermensch verwischt. Das Berner Symphonieorchester holt unter der Leitung von Nicholas Carter aber die grosse suggestive Kraft aus Wagners Partitur, die etwa die Phantastik und eigenwillige Lesart der Fafner-Szene als Disco zum Ereignis machen. Der zweite Akt ist überhaupt szenisch der effektvollste. Auch die Erda-Szene mit Claudio Otelli und Freya Apffelstaedt und mit dem hier überzeugenden Mitwirken der Tanztruppe hat ihre szenische Magie. Lange wird einem insgesamt der Berner Siegfried nicht. Die „Götterämmerung“ darf kommen.



            

             Theater Bern: „Siegfried“

             Besprechung (exklusiv) unter:
            
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Eingehende Besprechung
der aktuellen Inszenierung im Opernhaus Zürich:
Wotan und ein Ende

Richard Wagners «Ring des Nibelungen»

im Opernhaus Zürich

Inszenierung: Andreas Homoki und Chistian Schmidt

Dirigent: Gianandrea Noseda

Anhang:

„Der Ring des Nibelungen“, Opernhaus Zürich 2000–2002,

Richard Wagner feiern? – zum 200. Geburtstag

Richard Wagners Antisemitismus – Replik

PDF

Theater Bern – 2. Akt „Siegfried“ Bild: © Rob Lewis

Ein traumhafter Opernabend

Benjamin Brittens „A Midsummernight‘s Dream“ im Theater Winterthur     4. 5. 2024


Die Liebe zum Theater und die Lust am Spiel machen den langen Abend mit der Oper nach Shakespeares „Sommernachtstraum“ auch gross: Das Inszenierung um Rainer Holzapfel hat mit dem Internationalen Opernstudio des Opernhauses Zürich gezaubert,  und das von Duncan Ward geleitete Musikkollegium zaubert mit Benjamin Brittens Musik wunderbar mit. Selbst ein Bühnenvorhang tanzt an diesem Opernereignis mit.  


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Bild: © Herwig Prammer

“Guillaume Tell“ im Theater St. Gallen – Jonah Hoskins als Arnold / Bild: © Edyta Dufaj

Wie weit die Liebe geht

Claudio Monteverdis „Orfeo“ im Opernhaus Zürich     22. 5. 2024


50 Jahre nach dem legendären Monteverdi-Zyklus schliesst das Opernhaus mit «Orfeo» eine neue Interpretation der drei Opern ab – nicht fürs Geschichtsbuch, aber für ihre lebendig starke Gegenwart. Zumal „L‘Incoronazione di Poppea“ aber auch „Il Ritorno d‘Ulisse in Patria“ und auch „Orfeo“ sind heute Teil „normaler“ Spielpläne – und sie müssen nicht über einen Leisten geschlagen werden und im Verbund präsentiert werden. Sie weisen je in sehr unterschiedliche Richtungen. Mal Skandalgeschichte aus dem römischen Kaiserreich, mal auf sagenhaft ferne Zeiten des Trojanischen Kriegs zurückgehend, mal den vorzeitliche Mythos aufgreifend. So sehr das für das musikdramatische  Genie Monteverdis spricht, so sehr ist es die komplexe Aufgabe, seine Werke auf die Bühne der Gegenwart zu hieven. Wie es gelingen kann, zeigt nun auch die neue Inszenierung des „Orfeo“.


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Bild: © Monika Rittershaus


Pessimismus und Utopie

Giuseppe Verdis  „I vespri siciliani“ im Opernhaus Zürich     9. 6. 2024


Das Urteil über das Libretto ist verbreitet. Verdi habe sich nicht gross um Plausibiltät gekümmert. Im Opernhaus verzichtet Calixto Bieito darauf, die Geschichte der „Vespri siciliani“  im Detail zu erzählen und zu illustrieren. Statt auf cinéastischen Realismus setzt er auf die Bider in seinem Kopf: Was daraus geworden ist, hat in der eigenwilligen Theatersprache des Regisseurs seine Folgerichtigkeit, und wenn er die Essenz der Verdi-Oper dennoch verpasst, so nicht aus stilistischen Gründen, sondern weil er der Versöhnung im vierten Akt, die als Moment de Utopie aufleuchtet, den Glanz vorenthält. 


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Zum Text und zur Dramaturgie von Verdis „Les Vêpres siciliennes“: PDF

Blühendes Erbe

CD-Taufe im Alten Stadthaus Winterthur    13.6. 2024


«Vergessene Lieder, vergessene Liebe» ist der Titel der CD, die gestern in Winterthur präsentiert worden ist. Die Sopranistin Mélanie Adami, die Pianistin Judit Polgar und die Musikhistorikerin Verena Naegele gestalteten einen anregenden Abend zum St. Galler Komponisten Willy Heinz Müller. Dessen Manuskripte wurden nach seinem Tod in der Familie weitergereicht und blieben stumm, bis die Sängerin Mélanie Adami, die Urenkelin des Komponisten, sich ihrer nun angenommen hat.


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Warum konzertant?
„Andrea Chénier“ im Opernhaus Zürich   13.6. 2024


ES gibt die Belcanto-Oper, bei der Gesang alles ist, die Bühne hinter dem Zauber der Stimmen verschwindet. Es gibt die Opernrarirät, die man mal ohne den grossen szenischen Aufwand präsentieren möchte, es gibt die Primadonna oder den Primo Uomo, der gern für einen kurzen Auftritt vorbeischaut, und es gibt möglicherweise weitere Gründe für diese oder jene Oper auf dem Konzertpodium, notabene auf dem Konzertpodium, zu dem die Opernbühne umgebaut wird wie in diesem Fall für Umberto Giordanos „Andrea Chénier“. Warum also „Andrea Chénier“ konzertant, drei Aufführungen im Opernhaus Zürich? Angesagt war Anna Harteros, ein klingender Name, sie hat abgesagt. An ihre Stelle singt Erika Grimaldi, das erste Mal im Opernhaus und ein sympathisches erstes Mal, also ein Argument. Der koreanische Tenor Yonhoon Lee hat den Dichter Chénier in Zürich schon 2014 gesungen, damals in ader Inszenierung von Grischa Asagaroff von 2007, der letzten im Opernhaus Zürich.  Stimmmächtig, solid insgesamt, aber auch mit Hochdruck – bewährter Teil, aber kaum Grund für die Programmierung. Der dritte im Bund, George Petean war für szenischen Eclat gut, aber für den Bariton richtet man eher nicht her, wenn der Titel auf den Tenor zielt.  Es gibt auch andere Vermutungen, die mit dem Stück an sich zu tun haben, und es gibt die Tatsache einer insgesamt packenden konzertanten Aufführung mit Kräften, die für eine Inszenierung gut gewesen wären.  Mehr dazu in der Besprechung der Aufführung.  


Bericht: PDF

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Bild: ©  Herbert Büttiker

Bilder: ©  Herbert Büttiker



Bilder: ©  Herbert Büttiker



Bilder: ©  Herbert Büttiker



Bild: ©   Monika Rittershaus


Bild: ©   Ingo Hoehn


Bild: ©   Janosch Abel



Bild: ©   Edyta Dufaj



Bild: ©   Dennis Youlov



Bild: ©   Konstantiin Nazlamov



Bild: ©   Ludwig Olah / Edyta Dufy



Bild: ©   Herbert Büttiker

Bild: ©  Edyta Dufaj


Bild: ©   Matthias Jung



ARTIKEL 2024 / I