Alfred Felder
Aus dem Archiv
ÜBER ALFRED FELDER
VON HERBERT BÜTTIKER
Alfred Felder: waches Träumen –
ein Lebenswerk in Klängen
Winterthurer Jahrbuch 2021
Carl-Heinrich-Ernst-Kunstpreis“W
14. November 2018
«Es ist fantastisch, wenn man die Musiker kennt»
KUNSTPREIS Der Komponist Alfred Felder wird morgen
mit dem Carl-Heinrich-Ernst-Kunstpreis geehrt. Die
Ideen für seine Werke kommen ihm oft im Halbschlaf,
sagt Felder im Gespräch. Zurzeit schreibt er an einer
Oper zu Goethes «Walpurgisnacht».
Seit den Fünfzigerjahren ehrt die vom Drogisten Carl Heinrich
Ernst gegründete Stiftung Jahr für Jahr Persönlichkeiten aus dem
Kulturleben der Stadt und pendelt dabei zwischen den Sparten.
Dem neuen Preisträger attestiert sie, er habe «mit seinen
Kompositionen in Winterthur ein Publikum für neue Musik
geschaffen». Tatsächlich ist der Saal jeweils voll, wenn ein neues
Werk des 1950 in Luzern geborenen Alfred Felder im
Stadthaussaal, im Theater am Gleis oder auch an anderen Orten
gespielt wird.
Wir wundern uns nicht über den, wie es heisst, einstimmigen
Entscheid des Stiftungsrats. Haben Sie auf diese Auszeichnung
gewartet?
Alfred Felder: Im Gegenteil. Ich war sehr überrascht und sehr
berührt. Es ist für mich eine grosse Ehre.
Ich meinte nur, die lange Reihe von Werken, die hier
uraufgeführt worden sind, spricht für Ihre Ausnahmestellung als
Komponist in dieser Stadt.
Ich habe jetzt eine Liste gemacht und selber gestaunt, wie viel
das war. Ich hatte immer von sehr vielen verschiedenen Seiten
Kompositionsaufträge, aber hier in Winterthur, beim
Musikkollegium, im Theater am Gleis und manchmal auch im
privaten Rahmen, hat es sich konzentriert.
Ich erinnere nur an das Violinkonzert «Open Secret», das
Klaviertrio «Second Attention», das Streichquartett «Fremd bin
ich eingezogen» im Musikkollegium oder an «Spuren» und
«Songs of Time» für das Ensemble Theater am Gleis. Zuletzt
erklang im Stadthaus «Tänz» – alles Titel, die man nicht gleich
wieder vergisst. Und wie die Insider wissen: Das nächste Werk,
das in Winterthur uraufgeführt wird, ist in der Pipeline.
Ja, gegenwärtig arbeite ich an einer Oper, Thema ist wieder
Goethes «Walpurgisnacht», wie schon im Werk, das ich für den
Konzertchor Harmonie und das Zürcher Tonhalle-Orchester
komponiert habe. Ich habe es nun zum grössten Teil neu
geschrieben. Es ist das bisher grösste Projekt für Winterthur
oder, wie ich auch betonen möchte, das grösste, das ich
Winterthur zu verdanken habe. Ich habe ja das Glück, in einer
Musikstadt geboren und aufgewachsen zu sein, in Luzern, und
seit nun bald vierzig Jahren in einer Musikstadt zu leben, in
Winterthur.
Winterthur besitzt eine grosse Tradition neuer Musik und
neugieriger Hörer, man denke nur an die viel beschworene Ära
Reinhart. Ist die Stadt auch heute für einen Komponisten ein
inspirierender Ort?
Das kann man schon sagen, nicht nur wegen dieser Tradition,
sondern für mich konkret. Beim Komponieren schweben mir
immer die Ausführenden vor, deren Spiel ich genau kenne. Ich
kann mich daran orientieren, bei spieltechnischen Fragen Rat
holen. Es ist fantastisch, wenn man Musik für jemanden
schreiben kann, den man kennt.
Aber gut ist natürlich auch, wenn ein Werk dann seinen Weg
geht.
Natürlich, das Werk von 2008 etwa, das ich für das Winterthurer
Streichquartett geschrieben habe, ist unterdessen schon von
etlichen Formationen gespielt worden. Das Sarastro-Quartett hat
es auf CD eingespielt und wird es morgen auch an der Feier
wieder spielen. Eine Aufführungsgeschichte haben auch viele
andere Stücke von mir.
Wenn ein Stück ins Repertoire eingeht, kann das auch heissen,
dass es sich sehr an die Tradition anlehnt: Klaviertrio,
Violinkonzert und Streichquartett sind vertraute Formen der
Klassik.
Es ist natürlich die Frage, was aus diesen Formen wird, wenn
man sie aufgreift. Die Distanz zu offeneren, experimentelleren
Formen, wie sie ja gerade im Theater am Gleis ihren festen Platz
haben, ist nicht so weit, es sind vom Kompositorischen her zwei
verschiedene Blickwinkel. Aber klar, ich komme aus der Tradition.
Die Musik neu erfinden, das interessiert mich überhaupt nicht,
ich möchte lieber etwas Eigenes aus der Orchestertradition oder
der Kammermusiktradition heraus schaffen. Dass dann auch
neue Klänge, neue Effekt entstehen, ist für mich
selbstverständlich, aber nicht das Wichtigste. Ich weiss nicht, ob
jemand anderes schon in einem Streichquartett Stimmgabeln
zum Einsatz gebracht hat – das ist mir aber auch völlig egal.
Wie sind Sie zu dieser geerdeten, vertrauten und zugleich weit
offenen Klangsprache gekommen?
Für das Offene muss ich vielleicht eben das ominöse Wort
Inspiration bemühen. Für die Bindung an die Tradition liegt die
Erklärung auf der Hand. Ich bin ein ausübender Musiker, ich
habe konzertiert, in Kammermusikformationen und in
Orchestern gespielt, gespielt und gespielt. Viele Jahre war ich
Zuzüger im Tonhalle-Orchester. Dabei habe ich über
Instrumentation sehr viel gelernt. Ich habe neben meiner
Stimme immer auch die Partitur studiert, hingehört und mich mit
den Musikern über ihre Probleme unterhalten. Ich bin einer, der
Musik vom Spielen her hört und schreibt, nicht vom Kopf oder
Computer aus. Ich möchte nie etwas gegen, sondern für das
Instrument, für die Musiker schreiben.
Und wie ist das mit der Inspiration zu verstehen?
Es ist zum Beispiel so: Warum ich mit einem bestimmten Klang
beginne, weiss ich nicht, ich empfinde einfach die Notwendigkeit,
so und nicht anders schreiben zu müssen, bei der
«Walpurgisnacht» musste der Anfang einfach ein D sein, ich
weiss nicht, warum. Die meisten Ideen habe ich nachts, im
Halbschlaf, es ist ein inneres Hören, es sind Klänge oder Ideen
zur Lösung eines Problems. Im Nachhinein analysiere ich meine
Stücke und stelle dann oft überraschende Zusammenhänge fest,
aber die Intuition geht der intellektuellen Analyse voraus, ich bin
ein chaotischer Komponist, ich schreibe meist viel zu viel. Den
Schluss der «Walpurgisnacht» habe ich jetzt zum dritten Mal
geschrieben. Es ist nicht die effizienteste Art zu komponieren...
... führt aber hoffentlich wieder zu einem weiteren
«herausragenden Werk» im Sinn des Stifters des Preises, den Sie
morgen erhalten. Öfters sind in seinem Namen seither aber
nicht schaffende, sondern ausübende und organisierende
Kulturmenschen geehrt worden. Gehört nicht eine Scheibe des
Preises auch dem Cellisten Alfred Felder?
Als ausübender Musiker war ich vor allem in jüngeren Jahren
stark engagiert. Für Winterthur wohl wichtiger war, dass ich als
Cellolehrer am Konservatorium intensiv tätig war, von 1980 bis
2016.
Hat Ihr Selbstverständnis als Komponist den Unterricht geprägt
oder beeinflusst?
Ja und nein. Meine Schüler mussten nie Stücke von mir spielen,
manche wollten es. Ich habe mit ihnen viel improvisiert. Es war
mir wichtig, dass sie ihre eigenen Töne finden. Hinzu kommt,
dass ich für die Schüler, ihre Vortragsstunden, sehr viel Musik
bearbeitet habe, damit sie sich auch als Gruppe finden und
erleben konnten. So gibt es von mir stapelweise Bearbeitungen
für zwei, drei, vier oder mehr Celli. Das intensive, erfüllte Erleben
von Musik zu ermöglichen, wie es mich selber berührt, war beim
Unterrichten wie beim Spielen und Komponieren immer meine
Motivation. Die Anerkennung dafür freut mich sehr.
Tänz
2.Juni 2017
«Tänz» heisst das neue Werk von Alfred Felder, das vergnüglich aus der Taufe gehoben wurde – der Abend mit dem Musikkollegium war ein Geschenk.
Wer wem? Die Geschenk- frage ist in diesem Fall viel- schichtig. Einfach aber ist die Tatsache, dass ein gro- ses Publikum am Freitag im Stadthaussaal ein Wundertütenkonzert geschenkt bekam. Es begann mit dem Zauber des jungen Mozarts (die Sin- fonie Nr. 4 des Neunjährigen), brachte die seltene Begegnung mit dem Kontrabass als Konzertinstrument (ein Werk von Johann Baptist Vanhal) und schloss mit einer neuen Komposition von Alfred Felder. Diese hat mit Schweizer Volksmusik ebenso viel zu tun wie mit dem Repertoire eines Sinfonieorchesters, und soviel ist gewiss, «Tänz» ist ein witziges, charmantes und auch heimelig anrührendes Geschenk an die Schweizer Musikkultur, geeignet sogar für den Export: Swissness im Format vielschichtig virtuoser Konzertmusik und in der Handschrift eines eigenwilligen Komponisten.
Geschenke und Arbeiten
Die Begeisterung war gross und das Publikum in bester Stimmung für weitere Geschenkaspekte: Es geriet in Spendierlaune – es war ja das Benefizkonzert des Vereins «Allegro», der es sich zur Aufgabe macht, das Musik- kollegium finanziell und ideell zu unterstützen, und die Mu-sikerinnen und Musiker ihrer seits bedankten sich mit der grosszügigen Einladung zum Apéro, den sie selber instrumentiert hatten.
Geschenke tauschen ist etwas Schönes, aber der Sinn des Anlasses stand auf Arbeit: «Allegro» vergab einen Kompositionsauftrag an Alfred Felder, und dieser arbeitete lange an Galopp, Walzer, Polka, Mazurka, Walzer, Ländler und Schottisch. Er schrieb, verwarf und feilte so lange, bis aus dieser Vielfalt mit vielen überraschenden Übergängen das eine Stück «Tänz» mit seiner Dauer von 20 Minuten wurde.
Eine imaginäre Reise
Man kennt Felder von grossen tiefschichtigen Werken wie die Oratorien «âtesh» oder «Walpurgisnacht». Dass ihm der Schalk im Nacken sitzt, weiss man aber auch, und wie fest er da sitzt, ist in «Tänz» weder zu überhören noch zu über- sehen. Die Harmonien ufern gern über Dur und Moll hinaus, im Walzer gibt es Taktwechsel, polyphone Eskapaden werfen die volksmusikalische Ordnung immer mal wieder über den Haufen, und zum Instrumentarium gehören auch unklassische Instrumente wie Löffel und Weinflaschen.
Das Marimba geht als Klavier durch, Hackbrett machen die Streicher, und in Stellvertreterfunktion wird der Mann am Ventilhorn in der Introduktion zum Alphornbläser. Es klingt nach «Luegid vo Bärg und Tal», aber nur mehr oder weniger, und das Echo von Draussen hat seine eigenen Wendungen. «Tänz – Imagi-
näre Schweizer Volksmusik für Orchester » lautet der voll- ständige Titel: Um die Verarbeitung bekannter Schweizer Melodien ging es Felder nicht, obwohl in Lozärn geboren, fuhr er darum auch nicht nach Wäggis, sondern in ein musikalisch offenes Gelände – mit dem Effekt, dass in der Ima-gination alles um so Schwei-zerischer anmutet: Alpenluft, Hirtenweisen, Dorfbeiz, Tanzseligkeit, aber auch Innehalten – all das in heiterer witzig schräger und liebenswürdiger Beleuchtung und erspielt im anspruchsvollen Zusammen- spiel, bei dem alle, vom Piccolo bis zum Kontrafagott, gefordert waren – eine wunderbare Liebeserklärung an eigene musikalische Wurzeln, haben wohl viele empfunden.
„Water“
10.Januar 2017
„Water“
NEUJAHRSKONZERT Das Jugendsinfonieorchester des
Konservatoriums nahm im Stadthaus auch einen
lebenden Komponisten ins Konzertprogramm auf – und
einen Fisch.
...
Wellen stürmten an
Ein äusserst dichtes und reiches Klangerlebnis bot sich mit
«Water» von Alfred Felder. In seiner Einführung verwies er die
Hörer auf ihre eigene Assoziationskraft. Und auf
Assoziationskraft neuer Klänge versteht sich der in Winterthur
lebende Komponist wunderbar. Wie das Orchester pizzicato den
zunehmend schwerer fallenden Regen Klang werden liess, wie
sich motorische Rhythmik in Wasserkraft verwandelte, wie man
in die Tiefe tauchte, wie bedrohliche Wellen anstürmten – davon
konnte man sich fesseln lassen. Zu spüren war auch, dass sich
das Orchester gut in diese neue Klangwelt eingelebt hatte.
„Walpurgisnacht“
3. Mai 2016
Dämonie und Harmonie
TONHALLE Der Konzertchor Harmonie Zürich feierte
sein 175-jähriges Bestehen sehr ausgelassen. Er lockte
das Publikum zu den Ekstasen der Walpurgisnacht.
...
Zweimal Walpurgisnacht
Die Hauptwerke beider Konzerthälften hatten Goethe und das
Thema Walpurgisnacht als gemeinsamen Nenner, und auch die
orgiastische Entfesselung musikalischer Kräfte in orchestraler
Klangfantasie und rhythmischen Energien verband
Mendelssohns Kantate «Die erste Walpurgisnacht» und Alfred
Felders «Szenen der Walpurgisnacht aus Goethes Faust I». Aber
zwischen dem Geniestreich von 1832/1843 und der
Uraufführung, die sich der Konzertchor von seinem
«Hauskomponisten» zum Jubiläum bestellt hatte, liegen auch
Welten.
So rhythmisch präzis, kernig artikuliert und klangstark sich der
Chor «mit Zacken und mit Gabeln» auf das Hexenelement in
beiden Werken verstand: Bei Mendelssohn ist es – der Erzählung
gemäss – ein zwar wildes Spektakel, aber eben ein Spektakel,
und die beiden Druiden verkünden in der Opposition zu den
«dumpfen Pfaffenchristen» Frühlingshelle und göttliches Licht –
mit Tenorglanz Jörg Dürmüller im Eingangsstück und in pastoser
Fülle der Bassbariton Robert Koller im Finale.
Choral und Mambo
Mit feinen und präzisen Strichen öffnet Felder den Vorhang vor
den Abgründen der Walpurgisnacht. Das Orchester
vergegenwärtigt sie suggestiv mit irrlichternden Einwürfen von
Bläsern und Perkussion und mysteriösem Chorklang. Dass es
sich um eine Opernszene handelt, machte Robert Koller als
Mephisto im andeutenden Spiel und in der bösironischer
Farbigkeit seiner Stimme deutlich. Verhaltener, aber lyrisch
konzentriert gab Jörg Dürmüller den Faust im Bann des
Dämonischen.
Dramatisch packendes Potenzial entfaltet Felder mit Fausts
Gretchen-Vision. Schmerzlichinniger Streichersatz und Choral auf
der einen, treibende Rhythmik auf der anderen Seite spalten das
Klanggeschehen weit auf, bis der Crescendo-Taumel des Mambos
alles mitreisst – auch das Publikum, das den im
herausfordernden Programm des Abends imponierend
präsenten Chor und alle Beteiligten enthusiastisch feierte.
„The Second Attention“
13. November 2013
Eine Reise ins Innere
Temperamentvolle Musik in klassischer Trio-Besetzung hat
einen Namen – Artemis. Ins Moderne übersetzt, steht die
griechische Göttin für Frauenpower. Die neue CD begeistert
mit Stärken der Musikerinnen auch in einem neuen Feld.
Böhmen in uns
Das suggestive Moment der Musik zu vermitteln – diese
Kunst der drei Musikerinnen bringt auch Alfred Felders Trio
«The Second Attention» dem Hörer nahe, nur dass es wohl in
noch unbeschreiblichere Zonen führt als zu Dvorˇáks Böhmen,
das ja auch schon eine innere, nur musikalisch fassbare
Landschaft ist. Weiter gehen auch die musikalischen Mittel:
Gong, Maracas Schellen zu Beginn, am Ende eine
Schamanentrommel sprengen den instrumentalen Rahmen
des Trio-Spiels, und auch dieses selbst nutzt Extreme:
komplexe Rhythmen und freie Metren, präparierte Saiten des
Klaviers, extreme Ausdrucksbereiche der Streicher mit
wisperndem Glissandospiel etwa. Die Musikerinnen
imponieren mit der klanglichen und dynamischen Spannweite,
mit ziselierender Präzision und der scheinbaren Spontaneität
im komplexen Zusammenspiel, mit der Felders Musik zum
Sprechen gebracht wird.
«Alles ist Energie»: Zu diesem Motto beginnt das Trio im
marschartigen Rhythmus, dann aber ist die Musik über weite
Strecken, ohne Metrum notiert, offen für eruptive und
kontemplative Momente, und sie verklingt mit einer
schlichten, improvisiert wirkenden Weise der Violine zum
kreisenden Geräusch der Trommel. Es ist, wie auch bei
Dvorák, das Gefühl einer meditativen und zugleich
lebensvollen Reise, das von der tontechnisch klangschön und
kristallklar aufgenommenen neuen CD des Trio Artemis
vermittelt wird – ein Gefühl, das Felder mit «Second
Attention», dem schamanischer Erfahrungsbegriff, umschreibt.
„Khamush“
5. März 2012
Ein neues Chorwerk von Alfred Felder in der Tonhalle
Für «Khamush», ein Werk für Chor, Solisten und grosses
Orchester, sind die Erwartungen hoch. Der Winterthurer
Cellist und Komponist Alfred Felder knüpft an sein
erfolgreiches erstes Oratorium «âtesh» an.
Die Uraufführung von Alfred Felders Oratorium «âtesh» 2007
in der Tonhalle Zürich war für viele ein prägendes Ereignis,
vor allem auch für den Konzertchor Harmonie Zürich, der das
Werk in Auftrag gegeben hatte. Das zeigte sich im
vergangenen Herbst auch daran, dass viele Chormitglieder
sich an der Wiederaufführung in der Berliner Philharmonie
beteiligten. Dabei war der Chor Felder bei alledem auch etwas
schuldig geblieben: Aus praktischen Gründen musste bei der
Uraufführung einer der Sätze von «âtesh» weggelassen
werden. Der Idee aber, diesen Teil in einem weiteren Konzert
nachzutragen, setzte Felder dann eine andere entgegen: Er
wollte lieber ein neues Werk schreiben, das dem früheren als
eigenständiges Stück, aber auch in klarer Beziehung
gegenübertritt.
So folgt nun auf «âtesh» (Feuer) unter dem Titel «khamush»
wiederum ein vom persischen Dichter und Mystiker Mevlana
Jelaluddin Rumi (1207–1273) inspiriertes Werk. Die Wahl des
Titels erklärt Felder so: «Etwa ein Viertel von Rumis über
3000 Gedichten enden mit dem persischen Wort khamush, was
so viel wie Ruhe, Stille heisst.» Es handle sich somit um ein
für Rumi sehr wichtiges Wort und passe auch zum vertonten
Gedicht (Ghasel 491), das wie alle Gedichte Rumis keinen
Titel trage. «Schau mich an, ich bin dein Gefährte im Grab!»
lautet dessen erster Vers.
Stille und Ekstase
Was Felder an Rumi fasziniert, ist «das symbolische
Weltverständnis, seine kraftvolle, sinnliche Bildsprache, die
auf dahinter verborgene Wirklichkeiten hinweist, seine
rauschhafte Sprache und sein Durchdrungensein von der
Allgegenwart Gottes im Menschen». Wie es Felder in seiner
von der Musik des 20. Jahrhunderts geprägten Tonsprache
gelingt, in dieses elementare Erleben eines mittelalterlichen
Dichters einzutauchen und es auch dem skeptischen Hörer von
heute zu vermitteln, macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung
im Bereich des zeitgenössischen Musikschaffens. Als
«lebendig, schwungvoll, farbig, vital und ekstatisch, anderseits
still, ruhig, friedlich, besinnlich» beschreibt er seine Musik,
die alle Klangmittel des vollen Orchesters, auch stark
differenzierte Perkussion, nutzt. Den Ausführenden,
insbesondere auch dem Chor, der Rumis Verse persisch und
deutsch singt, wird in dissonanzenreicher Harmonik grosse
Virtuosität abverlangt.
Als klar wurde, dass der Chor im geplanten Konzert das
Brahms-Requiem aufführen wollte, war das für Felder der
Anstoss, ein neues Werk zu schreiben, statt sich um den
«âtesh-Restposten» zu kümmern. In der Art, wie der Tod in
Rumis Versen und in seiner Musik thematisiert sei, sieht
Felder eine Parallele zu Johannes Brahms und zum
«Deutschen Requiem» (1869). Dieses strahle aus christlicher
Sicht eine ähnliche Zuversicht und viel Trost aus wie Rumis
Mystik, und in beiden Texten fehle die «angstmachende»
Sequenz des «Dies irae», des Tags des Zornes, des Gerichts
über Gut und Böse, stellt er fest. Mit überzeitlicher Romantik,
so könnte man sagen, hat man es in der Kombination
Felder/Brahms zu tun.
„Atesh“
2.November 2011
Musikalische Botschaft
berlin. Ein in der Tonhalle Zürich 2007 uraufgeführtes
Oratorium von Alfred Felder erlebte seine erste Aufführung
im Ausland vergangene Woche in der Berliner
Philharmonie.
Das Oratorium «Âtesh», das auf Versen des persischen
Dichters Mevlânâ Djelaleddin Rumi (1207–1273) basiert, ist
das Werk eines Komponisten, der in der (katholischen)
Innerschweiz aufgewachsen ist, seit Jahrzehnten im
(protestantischen) Winterthur wohnt und arbeitet, sich auch
mit Schamanismus beschäftigt hat und in jüngerer Zeit tief in
den islamischen Orient eingetaucht ist – und doch auch wieder
nicht. Denn Alfred Felder (*1950) hat die Verse – in deutscher
Übersetzung, in einigen Sequenzen aber auch im Original – in
einer musikalischen Sprache vertont, die der westlichen
Tradition und Moderne und dem grossen Apparat von
gemischtem Chor, Solisten und Sinfonieorchester verpflichtet
ist. Doch bestimmt gerade die spezielle Verbindung kultureller
Hintergründe die Rezeption des Werks, die jetzt um ein
Berliner Kapitel reicher ist.
Komponiert wurde «Âtesh» für den ambitionierten Zürcher
Konzertchor Harmonie. Die Uraufführung im grossen Saal der
Tonhalle Zürich unter der Leitung seines Dirigenten Peter
Kennel hinterliess einen tiefen Eindruck – auch bei den
Ausführenden, und sie war ein Ereignis, das sich in
Musikerkreisen herumsprach und auch in Berlin registriert
wurde. Zur Aufführung von «Âtesh» im grossen Saal der
Berliner Philharmonie kam es nun am 25. Oktober im Zeichen
des 50. Jahrestags des «Anwerbeabkommens» zwischen der
Türkei und Deutschland, das 1961 die Einwanderung der
«Gastarbeiter» regelte. Das Konzert verstand sich als Beitrag
zur «verbindungsstiftenden Begegnung der Religionen und
Kulturen».
Beim Begriff «Botschaft» ist zwar Vorsicht geboten, weil dem
Stück nichts Programmatisches oder gar Moralisierendes
anhaftet: Rumis Verse sind von einer offenen, elementaren
Symbolsprache geprägt, vom Feuer, vom Wein, vom Grab ist
die Rede, und der «Ofen singt berauschte Verse». Aber ein
Werk, dessen Inspiration die Erfahrung der spirituellen
Wurzeln des Menschseins in Ausdrucksbereichen sucht, die
hinter allem Konfessionellen oder eben in der Musik als
solcher liegen, hat in einer religiös gespaltenen Welt eben
doch eine aktuelle Botschaft.
Licht und Feuer
Ein explizit christliches Werk des in Berlin lebenden
Komponisten John Allison Campbell, die Sinfonie «Lux
mundi», eröffnete das von Jan Olberg geleitete Konzert am 25.
Oktober, gefolgt von einem Vortrag eines Sufi-Ensembles der
Deutsch-türkischen Musikakademie mit Texten islamischer
Mystiker und der Aufführung von «Âtesh» als grossem
Schlusswerk des Abends mit 200 Mitwirkenden. Um die
dreissig «Âtesh»-begeisterte Mitglieder des Konzertchors
Harmonie waren zu Proben und Konzert angereist und
verstärkten den Berliner Chor, der schon mit der Uraufführung
von Campbells Sinfonie ein grosse Pensum zu bewältigen
hatte. Zwei Passagen hatte Felder für den ebenfalls
involvierten Kinderchor des Händel-Gymnasiums Berlin neu
eingerichtet, und ausgezeichnete Solisten standen mit der
Schweizer Sopranistin Yvonne-Elisabeth Friedli und dem von
den Philippinen stammenden Bassbariton Jonathan de la Paz
Zaens auf dem Podium. Es spielte das mit dem Chor eng
verbundene Berliner Konzert-Orchester, das insbesondere mit
seinen Bläsern und dem Schlagzeug viel zur starken Wirkung
der Aufführung beitrug.
Im Konzertsaal war der Applaus enthusiastisch; wie weit der
Abend auch im Sinne des glänzend gezogenen offiziellen
Rahmens – mit dem Bürgermeister Klaus Wowereit als
Schirmherr, dem Kulturministerium der Türkei als Förderer
und weiterer politischer Flankierung – seine Ausstrahlung
erreichte, ist ja wohl schwer abzuschätzen; dass der Schweizer
Beitrag dafür bedeutend war, verdient vermerkt zu werden.
„Songs Of Time“
7.Oktober 2010
Musik über den Strom der Zeit
«Songs Of Time» heisst das Werk von Alfred Felder, das zu
seinem 60. Geburtstag vom Ensemble Theater am Gleis
(TaG) uraufgeführt wird – ein Gespräch mit dem
Komponisten.
War die Zeitmarke Sechzig für Sie der Anlass, sich mit dem
Thema Zeit musikalisch auseinanderzusetzen?
Alfred Felder: Damit beschäftige ich mich, seit ich denken
kann. Das geht bis zu Fragen wie: Gibt es Zeit überhaupt, oder
ist sie nur in unseren Köpfen? Ist sie eine Erfindung, die mit
der Unrast des Menschen zu tun hat? Zeit ist für mich
Bewegung, ich empfinde ihren langsamen Fluss. ich spüre sie
in den Veränderungen – auch in meinem Leben. Die Zahl
Sechzig spielt da schon eine Rolle, anders als bei vierzig oder
fünfzig geht mir jetzt die Frage nach der Zeitdauer des Lebens
schon nahe.
Gemeinhin bleibt man in der Generationenordnung der
Musikszene ja «junger Komponist» bis 50
... und mit 60 ist man noch kein Jubilar. Eine gute Bekannte machte
die «NZZ» auf meinen 60. Geburtstag aufmerksam und erhielt den
Bescheid, gefeiert werden Künstler erst mit 70.
Also sind Sie als Komponist im besten Alter. Tatsächlich hat
man den Eindruck, dass Sie in einer sehr produktiven Phase
sind.
Das ist schon so
... auch mit gewichtigen Werken, die über die Uraufführung
hinausgehen.
Ja, es tut sich vieles. Das Oratorium «Atesh» kommt nächstes
Jahr im Oktober in die Berliner Philharmonie, auch viele
andere Werke sind unterwegs.
Wenn Zeit ein Thema ist, das Sie schon immer beschäftigt hat,
was war denn die Initialzündung zu «Songs of Time»?
Das Ensemble Theater am Gleis wollte ein Konzert zu
meinem 60. Geburtstag veranstalten und gab mir eine Carte
blanche dafür. Ein wunderbares Geschenk! Mir war aber
gleich klar, dass ich kein Konzert ausschliesslich mit Werken
von mir wollte. Es sollten auch Komponisten aufgeführt
werden, die mich beeinflusst, berührt haben, als Musiker und
als Menschen.
Auf dem Programm stehen Michael Jarrell, 1958 geboren, und
Klaus Huber, 1924. Warum gerade sie?
Bei Jarrell liebe ich die Klangsinnlichkeit, dass der Klang die
Musik ausmacht, quasi das Französische. Bei Huber ist es die
menschliche, die geistige Seite, die ich liebe. Auch er hat diese
mystischen, «verrückten» Texte.
Sie haben für «Songs Of Time» Texte aus den verschiedensten
Weltepochen und -kulturen zusammengestellt. Entstanden ist
eine rund fünfzig Minuten dauernde Komposition in 9 Teilen,
die mit Zwischenspielen verbunden sind – ein komplexes
Werk. Wovon sind Sie ausgegangen?
Als mich das TaG anfragte, war klar, dass ich etwas schreiben
würde, was dem Ensemble auf den Leib geschrieben ist. Peter
Kennel schätze ich sehr als Musiker, als Mensch, als Sänger,
und er war begeistert von der Idee. Dann kam die Frage nach
dem Text. Es gibt ja viele, die ich gern vertonen möchte. Es
blieb dann bei der Idee, mich einmal ganz explizit mit dem
Thema Zeit auseinanderzusetzen. Die Texte zu finden, war
eine riesige, aber auch ein fantastische Arbeit. Wie haben sich
verschiedene Kulturen mit der Zeit befasst, was haben sie
darüber geschrieben? Was für Aspekte bezüglich der Zeit zeigt
sich in den verschiedenen Religionen? Das waren Fragen,
denen ich nachging.
Haben musikalische Vorstellungen Sie bei der Suche gelenkt?
Nein, ich fand einen Text, setzte ihn in Musik, dann den
nächsten, das ging ziemlich chaotisch durch die Zeiten und
Kulturen. Auswahl und Reihenfolge fügte ich erst nach und
nach zur Gesamtform. Früh hatte ich auch die Idee der
instrumentalen Zwischenspiele.
Sie beginnen jetzt hebräisch, und am Ende steht ein Satz aus
der Zeit der Pharaonen, alles in Originalsprache. Warum?
Anders gefragt: Was bestimmte die Musik mehr, der Klang der
Sprache oder die Aussage, der Sinn?
Es ging mir zunächst schon darum, den Sinn musikalisch zu
deuten. Die Originalsprache war für mich aber ganz wichtig,
obwohl es die Sache für den Sänger ungemein schwierig
macht. Die Vielfalt der Sprachklänge gehört zur Farbigkeit der
Musik.
Die «Zeitreise», die der Text suggeriert, scheint zugleich
einem Kontrastprinzip zu folgen. 1 und 2: Anfang («Genesis»,
hebräisch) und Ewigkeit («Vater unser», aramäisch). Was
bedeutet in Ihrem Stück «Anfang» kompositorisch?
Ich stand vor der Wahl, das übliche zu tun, Musik aus dem
Nichts entstehen zu lassen, aber ich habe das andere gewählt,
den «Big Bang», also einen wirklichen Anfang gesetzt.
Und die Ewigkeit?
Ich verstehe ja nicht, was Ewigkeit ist. Niemand versteht es.
Da habe ich das Naheliegende gewählt, den stehenden Klang,
in diesem Stück eine Quinte.
Die Teile 3 und 4 handeln von der Bewegung, vom Leben,
vom Werden und Vergehen («Koran», arabisch) und der Seele
als dem Unvergänglichen in der Zeit («Bhagavad-Gita»,
Sanskrit). Was heisst das für die Musik?
Klavier und Schlagzeug spielen ein Ostinato, das geht durch
als ein Kreisen. Alle Instrumente sind beteiligt im dritten Teil.
Im Gegensatz dazu spielen die Instrumentalisten im vierten
Teil nicht mehr mit ihren Instrumenten, sie legen gleichsam
ihren Körper beiseite, nehmen Triangel, Gong, Zimbel und
inszenieren einen Klang, der etwas Sphärisches, Körperloses
hat. Der Sänger singt dazu völlig frei, – «zu irgendeiner Zeit»,
wie es auch im Text heisst.
Teil 5 und 6 sehe ich als Gegensatz zwischen Ungewissheit
und Gewissheit. Die wunderbare Aussage von Michel de
Montaigne («Essais», französisch) über unser gänzliches
Unverständnis der letzten Dinge, weil wir doch bloss «die
Gottheit durch unser Sieb rütteln», also mit beschränkten
Organen das Ganze zu erfassen meinen. Dagegen wieder
Platons («Phaidon», griechisch) dezidiertes «Wissen» um die
Unvergänglichkeit der Seele.
Der musikalische Zugang zu Platon ging für mich sehr über
die Vorstellung des Altertums, der damaligen Instrumente,
Aulos, Kithara, ohne dass ich wirklich griechische Musik
schreiben wollte. Es ist hier ein schlichtes Trio mit Altflöte.
Etwas, was sich vom Sinn her interpretieren lässt, gibt es
vielleicht aber doch. Der Bass spielt ein Zwölf-Ton-Motiv. Es
sind also alle Töne präsent, mit anderen Worten das Ganze.
Für Montaigne war dann auch schlicht die Textlänge
ausschlaggebend dafür, dass er nicht melismatisch, sondern als
Rezitativ wiedergegeben wird.
Teil 8 und 9: Das Catull-Gedicht («Vivamus», lateinisch), der
sinnliche Augenblick, das Einzige, was wir – vielleicht –
sicher haben. Dagegen wieder Walt Whitman («Leaves of
Grass», englisch), der sagt, dass eigentlich alle Augenblicke,
wie verschieden sie scheinen mögen, in einer grossen
Ähnlichkeit aufgehen, dass alles Eins ist.
Nach all dem Abgehobenen, kaum Fassbaren wollte ich
mindestens ein ganz diesseitiges, lebensnahes Stück, um mich
auszutoben. Sehr rhythmisch, sehr schnell, voller Energie ist
die Musik zu «Vivamus». Bei Whitman geht es mir um das
Gefühl, dass wir nur ein kleiner Teil des grossen Ganzen sind,
Teil der Natur, und vielleicht gar nicht so wichtig. Vibrafon,
Klavier setzen vereinzelt Sterne an den weiten Himmel,
einzelne Töne begleiten den Sänger.
Bleibt noch Teil 9. Es geht zurück in die älteste
Kulturgeschichte und zugleich in die Zukunft mit dem
merkwürdigen Satz: «Es ist gut, zur Zukunft zu sprechen – sie
wird zuhören.»
Der älteste Text – 4500 Jahre alt – und zugleich ein Text über
die Zukunft! Das gehört für mich unbedingt an den Schluss.
Eine unglaubliche Aussage. Die Zukunft nicht als
Schreckgespenst, sondern als Partner im Dialog. Musikalisch
ist jeder Schluss ja etwas, was ich mir lange überlege. Ich habe
verschiedene Ideen, die ich mit dem Ensemble probiere. Sie
werden es hören. I
„De profundis“
1. April 2010
«Lass deine Ohren vernehmen»
Konzerte, die dem tieferen Sinn der Feiertage verpflichtet
sind, prägen Karwoche und Ostern. Dabei zeigt sich die
grossartige Fülle geistlicher Musik. Ein neues Werk von
Alfred Felder wird von der Kammerphilharmonie
Winterthur uraufgeführt.
Es muss ja nicht immer die Matthäus-Passion sein, obwohl
Johann Sebastian Bach mit seinem Oratorium wohl das
Hauptwerk für alle Zeiten zu diesem Thema geschrieben hat.
Im Überblick über die musikalische Gestaltung der
kommenden Festtage im näheren Umfeld zeigt sich überhaupt
kein Werk von Bach, dafür aber ein breites Spektrum, das von
der Renaissance in die Gegenwart reicht. Dafür steht das
Programm der Kammerphilharmonie Winterthur unter dem
Titel «Passio» exemplarisch mit einer Uraufführung des in
Winterthur lebenden Komponisten Alfred Felder: «De
profundis», Musik für Sopran, Mezzosopran und
Streichquartett.
Zur Eröffnung des Konzerts waren und sind in einem
Arrangement für zwei Stimmen und Streichquartett zwei
Responsorien des mit seinem Werk wie seiner Biografie aus
seiner Zeit herausragenden Komponisten Gesualdo di Venosa
(1566–1613) zu hören: in ihrer herben und spannungsvollen
Polyfonie die ideale Einstimmung ins Konzert und die
Karfreitagsthematik. Die hier wiedergegebenen Eindrücke
stammen von einer Aufführung am vergangenen Sonntag in
Zürich. Heute und morgen wird das Konzert in Veltheim und
Sitzberg wiederholt (siehe Kasten).
Zwiesprache mit Gott?
Von den beiden Texten, die in Ge-sualdos Vertonung zu hören
sind, führt «Tristis est anima mea» in den Garten Gethsemane,
«Sicut ovis» auf den Kalvarienberg. An beiden Orten, das wird
in der Matthäus-Passion mit der Rollengestaltung des Jesus
deutlich, geht es um Szenen der Zwiesprache, der bangen,
auch der verzweifelten Anrufung. Zu den unvergesslichen
Momenten des «Dramas» gehören die letzten Worte des
Sterbenden. «Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und
sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist: Mein Gott, mein
Gott, warum hast du mich verlassen?» Es handelt sich um ein
Rezitativ des Evangelisten und des Basses in der Jesus-Rolle,
über dessen Rede im Tonfall mit gebundenen Achteln
«adagio» steht: eine Stelle, die über das Rezitativische weit
hinaus, wenn auch kaum ins Ariose hinein geht. Man könnte
sagen, der «Schrei» des Menschen, der an seinem Gott
verzweifelt, zeige sich modern in der Tonsprache, die stärksten
Ausdruck in der freien Form findet.
Dass Alfred Felder bei der Komposition seines Beitrags für
das Passionskonzert der Kammerphilharmonie bei Bach die
Inspiration gefunden hat, sei damit nicht gesagt, aber dem
Hörer kann der Gedanke kommen, dass sein «De profundis»
so etwas wie die weite Entfaltung dieses einen Moments der
«Matthäus-Passion» darstellt. Um die fünfzig Minuten dauert
die Komposition, der als Text der Psalm 130 mit dem Anfang
«De profundis clamavi ad te» (Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu
dir) zugrunde liegt, eingeteilt in fünf Sätze, in denen sich
Mezzosopran und Sopran abwechseln. Nur im fünften singen
sie zusammen.
Von einem «Duett» möchte man auch da nur bedingt sprechen,
das Bitten um Gehör – «Lass seine Ohren vernehmen » – , mit
dem Gott (domine!) angerufen wird, kommt aus der Tiefe,
Stille und Einsamkeit und es steigert sich bis zu manischer
Heftigkeit. Am Ende aber steht ein gesprochenes «Domine?».
Beide Sängerinnen haben einen weiten Stimmumfang und
weite Legatobögen zu beherrschen, und sie brauchen auch die
Durchsetzungskraft eines zu grosser Vehemenz geballten
Klangs des Streichquartetts. Wie Martina Hofmann (Sopran)
und Dorothee Labusch die anspruchsvollen, aber jederzeit
sängerischen Partien meistern und wie sie die existenzielle
Ursituation «verkörpern», ist überaus beein-druckend.
Fragen und Hoffen
Als tief menschlich ist die «Szene» immer wieder zu fassen.
So etwa wenn im ersten Satz die Mezzosopranistin in einem
anstürmenden «Appassionato» um Erhörung fleht und der
«Lärm», den sie dabei macht, eigentlich ausschliesst, dass sie
eine göttliche Antwort auch hören würde. Verwirrt und
fragend macht am Ende des Satzes das gesprochene
«Domine?» die Paradoxie deutlich. Der zweite Satz antwortet
dem mit der «zart» einsetzenden, dann aber weit
ausschwingenden Sopranstimme. Auch da ist viel Emotion,
Bewegung und um so grossartiger der Moment im dritten Satz
mit dem Ruhepunkt über dem pulsierenden Pizzicato: erfüllte
Stille, aus der Hoffnung aufleuchtet.
Eine Beschreibung, die sich nur dem Gesang zuwendet, wird
dem Werk freilich nicht gerecht: Im expressiven Geschehen
sind Gesangs- und Instrumentalstimme aufs Engste verwoben,
und in grossen instrumentalen Passagen dominiert die
Klangrede des Streichquartetts, solistisch und orchestral. Es
bringt starke rhythmische Energien, dunkle und sphärische
Klangfelder und immer wieder starke symbolische Gesten ins
Spiel. Die drei Töne des zentralen Wortes «Domine»
bestimmen die Komposition auf vielfältige Weise: «Als Frage
(gibt es denn einen Gott?), als Suche, als Wunsch, Sehnsucht,
Hoffnung, Bekenntnis, Glaube» (Alfred Felder).
So schnell ist diese Musik nicht ausgehört, die auch ans
Streichquartett höchste Anforderungen stellt.
«9ten Novemb. 1828 –Tagebuch – Robert Schumann»
23. Oktober 2009
Schumann-Jahr in der Tonhalle
Als Vorboten für Robert Schumanns 200. Geburtstag lässt
die Tonhalle Zürich auch neue Werke schreiben, so von
Alfred Felder und Octavian Nemescu.
...
Als der Poet unter den Komponisten ist Schumann für
Programme prädestiniert, die Wort und Musik verbinden, und
ein weiterer Fokus ergibt sich mit zeitgenössischen
Komponisten, die eine besondere Affinität zu Schumann
haben wie Heinz Holliger, dessen «Romancendres» für
Violoncello und Klavier von 2003 in diesem Rahmen im
Januar zur Aufführung gelangen werden.
Am kommenden Sonntag verbindet sich im Namen
Schumanns beides, zeitgenössische Musik und Textrezitation:
«9ten Novemb. 1828 –Tagebuch – Robert Schumann» lautet
der Titel eines Werks für Klarinette, Viola, Klavier und
Schlagzeug des Winterthurer Komponisten Alfred Felder, das
an der Matinee uraufgeführt wird. Dazu gibt es gelesene
Fragmente aus den Tagebüchern sowie musikalische Zitate
von Schumann und, ebenfalls als Uraufführung, eine
Komposition des Rumänen Octavian Nemescu («EUI oder
ErU ImII für 2 Uhr nachmittags» für Klarinette, Viola,
Schlagzeug, Klavier und Band).
Für ein Kammermusikkonzert ungewöhnlich ist das szenische
Element: Der Sprecher tritt auf als Pfleger des eben
verstorbenen Komponisten und findet sein Tagebuch: Er
schlägt es auf, beispielsweise den 9. November 1828, und
findet – so Felder, von dem auch Testauswahl und Konzept der
Matinee stammen – «fantasierende, bezaubernde Prosatexte
mit dem Titel ‹Mitternachtsstük aus Selene›. Nach dem Sinn
des Lebens suchend, erscheint im Tagebuch an dem Tag
immer wieder die Frage: ‹Giebt es denn eine
Unsterblichkeit?›»
Zu seiner Musik sagt Felder: «Kein einziger Schumann-Takt
ist zitiert, wohl aber sein Klang präsent.» Überhaupt ist als
integrale Komposition von Schumann an dieser Hommage
einzig die Miniatur «Von fremden Ländern und Menschen»
aus den Kinderszenen zu hören – alles ist somit Reflexion,
«neue» Musik, die vielleicht hellhörig machen kann für das
Werk eines äusserst prekären Künstlerlebens, das mit Bedacht
gefeiert sein will, gerade auch, wenn die Musikwelt es eifrig
tut: Zwei Dutzend Werke des grossen Romantikers verzeichnet
das Generalprogramm 2009/10 der Tonhalle, und vertreten ist,
von Oper und Oratorium einmal abgesehen, die ganz Breite
seines Schaffens: Klaviermusik, Kammermusik, Lied,
Orchestermusik.
«Fremd bin ich eingezogen – Variationen über das Lied
‹Gute Nacht› aus der ‹Winterreise› von Franz Schubert»
19. Mai 2008
Annäherung an Schubert von vielen Seiten
Wenn sich Winterthurer Musikkollegium und
Konservatorium zusammentun, gerät die Stadt in
Schwingung. «Schubert-Fest» heisst das Losungswort für
diese Woche. Die ersten drei Konzerte zeigten eindrücklich
die Vielfalt des Möglichen.
WINTERTHUR – Im Stadthaussaal türmten sich am Freitag
die Lautsprecher und Geräte. Doch das Stichwort zu einem
Szenischen Konzert und Musikimprovisationen über Lieder
von Franz Schubert lautete «Introversion». Wer da einen
Widerspruch vermutete, bekam recht; ein leiser Abend wurde
es nicht und ein inniges Hineinhören in schubertsche
Wendungen war nicht beabsichtigt. Der Bandworkshop und
das Theater der Kantonsschule Büelrain, die zusammen mit
dem Orchester des Musikkollegiums vor vollem Saal das
Schubert-Fest eröffneten, suchten etwas anderes: in der Welt
Schuberts die eigene, nämlich einerseits den Klang des Jazz und
Poporchesters (mit Schubert als Steinbruch) und
andererseits heutige Befindlichkeit in der Gestalt des jungen
Mannes im Wiener Biedermeier zwischen Lebenslust und
kümmerlichen Verhältnissen, gesellschaftlichen Zwängen und
Freihheitsdrang, zwischen Freundschaftsnähe und
Vereinzelung.
...
Derselbe Ort, kompletter Szenenwechsel: Das Equipment des
zweiten Abends war das, was pure Musik verlangt, nämlich
Notenständer und Stuhl, und die Dramaturgie der Begegnung
mit Schubert war die hergebrachte, nämlich die Aufführung
seiner Werke. Den Komponisten selber sprechen respektive
klingen zu lassen, ist ja das einfache, wenn auch unerreichbare
Ideal der Interpretation, die genau besehen ein komplexer
Sachverhalt voller Spiegelungen ist – mit der Uraufführung
eines zeitgenössischen Stücks im Programm, das seinerseits
von einem Schubert-Erlebnis handelt, ohnehin.
Anverwandlung und Zitat
Zwischen die Aufführung des B-Dur-Trios (D 471) und des
a-Moll-Quartetts (D 804) rückte das Winterthurer
Streichquartett (Willi Zimmermann, Pär Näsbom, Jürg Dähler
und Cäcilia Chmel) Alfred Felders Streichquartett mit dem
Titel «Fremd bin ich eingezogen – Variationen über das Lied
‹Gute Nacht› aus der ‹Winterreise› von Franz Schubert», ein
rund fünfzehn Minuten dauerndes Stück, das sich mit seiner
Ereignisdichte und -fülle als Mittelwerk im Konzert
eindrücklich behauptete. Spannend ist der vielschichtige
Bezug zur Musik Schuberts.
Mit dem Rhythmus des Schreitens des allein einsetzenden
Cellos und im mehr oder weniger verfremdeten Anklingen der
melodischen Phrasen im Geflecht der vier Stimmen bedeutet
dieser Bezug im Ganzen eher Anverwandlung als Zitat, aber
ein Menuett Schuberts drängt sich in der zweiten Variation
dann doch mächtig hervor. «Was soll ich länger weilen?»
lautet die Satzüberschrift, und wirklich dauert das Fest nicht
an, und der Crash, mit dem der Tanz endet, ist einer jener
starken Wirkungen, die Felder pointiert zu inszenieren
versteht. Eine solche gibt es auch am Schluss, wenn das Stück
mit dem Einsatz von Stimmgabeln verklingt: «Fremd zieh ich
wieder aus ...» – das wird hier suggestiv und subtil in Klang
gesetzt.
Könner am Werk
Insgesamt prägt das Werk die grosse Spannweite zwischen
schweifendem Lyrismus der Bratsche zu Beginn der zweiten
und kantablem Espressivo der erste Violine in der dritten
Variation und der vehementen Dramatik im Agitato molto der
ersten. Hier tritt das melodische Zitat des Wanderers
sarkastisch hervor – und ist doch ganz eingebettet in eine
Komposition von eigener Fantasie, die die Instrumente zu
bedienen weiss. Für das Quartett ist das Werk eine ebenso
herausfordernde wie dankbare Aufgabe, und in der packenden
Aufführung zeigte sich hervorragendes Können im subtilen
Weben wie im knirschenden Zugriff.
In der Verbindung von wacher Klarheit und weich sich
verströmender Kantabilität, von subtilem und zugleich
schwungvollem Musizieren brachte das Quartett auch die
beiden rahmenden Schubert-Werke dem Hörer nahe, wobei sie
vom unbekümmerten Musizieren des jungen zum Schubert der
grossen Reifejahre einen Bogen schlugen, hinweg über die
Brüche und Aufbrüche der Moderne, deren Dämmern
Schuberts Musik selber ihre über die Zeit hinausweisende
Grösse verdankt. Das «Rosamunde»-Quartett mochte noch
traumverloren über den Abgründen schweben, die
«Winterreise» tat es nicht mehr und auch ein spätes
Kammermusikwerk wie das Es-Dur-Klaviertrio ist voller
«unheimlicher» Ahnungen.
«open secret – shobet for violin solo and orchestra»
21. Dezember 2007
Offenbarungen und Geheimnisse – ein Dialog
Nach seinem Erfolg mit dem Oratorium «Atesh» in der
Zürcher Tonhalle im Januar ist «Open secret» für den 1950 in
Luzern geborenen, in Winterthur lebenden Komponisten und
Cellisten Alfred Felder die zweite grosse Uraufführung in
diesem Jahr. Und er arbeite bereits an weiteren Aufträgen,
erklärte er in der Einführungsveranstaltung. Jac van Steens
Frage, ob er auch für die Schublade komponieren würde, blieb
damit als rein theoretische unbeantwortet. Eine einfache und
zugleich vielschichtige Antwort fand hingegen die Frage nach
dem Komponiervorgang. Es sei eine Art Schwangerschaft,
meinte Felder zunächst scherzhaft, dann aber auch, es handle
sich um ein Aufschreiben dessen, was er höre, und
schliesslich, es sei ein Auswählen, Verwerfen, und zurück
bleibe ein Berg nicht verwendeter Ideen.
Und der Widerspruch «Open secret»? Felder verweist auf
Beethovens 7. Sinfonie im Programm, ein Werk, das ihm viel
bedeute und viel sage, wenn er es höre oder spiele. Nur, was
eigentlich? In der Musik gehört das Offenbare und
Geheimnisvolle zusammen. Das Ghasel von Jelaluddin Rumi
– es wird, von Orchestermusikern rezitiert, als Klangteppich
Teil der Komposition – könne dem Hörer einen Wink auf die
Art des Dialogs («shobet») geben. Aber dieser sei vor allem
Musik, Musik die aus seinem Herzen komme. (hb)
«open secret – shobet for violin solo and orchestra»
14. Dezember 2007
«open secret» von alfred felder
Mit dem Violinkonzert «open secret – shobet for violin solo
and orchestra» präsentiert das Musikkollegium nicht zum
ersten Mal ein Werk des in Luzern geborenen, in Winterhur
lebenden Violoncellisten und Komponisten Alfred Felder. Im
Klaviertrio «The second attention» (2000) spielte eine
schamanische Trommel eine wichtige Rolle. Einen spirituellen
Hintergrund aus einer anderen Kultursphäre prägt das neue
Violinkonzert: Im Hintergrund steht ein Gedicht des Mystikers
Jelaluddin Rumi (1207–1273), dessen 800. Geburtstag am
Montag gefeiert wird. Auf Texten der islamischen Dichters
basierte auch Felders in der Tonhalle Zürich sehr erfolgreich
uraufgeführtes Oratorium «Atesh», dessen Klangwelt im
Violinkonzert ein Echo findet.
„Atesh“
13. Dezember 2007
Botschaft aus der Tabuzone der Moderne
Er beherrscht eine immense Palette auch spezieller
musikalischer Möglichkeiten, und er hat etwas zu sagen, was
alle angeht: Alfred Felders «Atesh» begeisterte an der
Uraufführung in der Ton-halle ein grosses Publikum.
ZÜRICH –Zwei Werke standen auf dem Programm des
Abends mit dem Konzertchor Harmonie und mit Solisten und
dem Tonhalle-Orchester unter der Leitung von Peter Kennel:
Mozarts Kantate «Davide Penitente» und die Uraufführung
eines im Auftrag des Chors entstandenen Werks des
Winterthurer Komponisten Alfred Felder («Landbote» vom 8.
Jan.). Als zwingend brauchte man die Werkfolge nicht zu
verstehen. Immerhin zeigt sich eine gewisse Verwandschaft,
wenn Felder sich der Mystik des persischen Dichters Moulana
Dsschalaluddin Rumi (1207–1273) zuwendet, im Grunde aber
den Quellen des Religiösen überhaupt nachspürt, und wenn
wir bei Mozart in die Werkstatt eines Katholiken mit durchaus
offenem Verhältnis zum kirchlichen Kanon blicken.
...
Aber – sorry, Mozart – die Spannung konzentrierte sich auf
die zweite Konzerthälfte. Hier stand der Mut eines Chors auf
dem Spiel, sich auf einen Zeitgenossen einzulassen, der nicht
dafür bekannt ist, es seinen Interpreten einfach zu machen,
und es ging um das Wagnis eines Komponisten, sich auf das
«Oratorium» einzulassen, auf den konventionellen
Riesenapparat und auf ein «Thema» in der geistigen
Spannweite, die der Tradition dieser Grossform standhält. All
das wurde mit der Uraufführung von «Atesh» auf bewegende
Weise nun eingelöst und belohnt.
Hervorragende musikalische Leistungen noch und noch: Der
Chor zeigte auf dem schwierigen harmonischen Parkett des
vierstimmigen Chorals nicht nur Sicherheit, sondern auch
flexibles musikalisches Gestalten, die skandierenden Passagen
erhielten fast durchwegs den Zuschuss von Spontaneität, der
in der vertrackten Rhythmik schwer zu realisieren ist.
Beherrscht war das dynamische und klangliche Spektrum vom
Ruf zum Flüstern, vom grossen Ton zum Summen, zum
Geräusch. Ein Klangfarbenfest bot das Orchester: mit grosser
Differenziertheit das reich besetzte Schlagzeug, mit Wärme
solistische Bläser und Streicher.
Wort und Ton
Besonders anspruchsvoll in der ariosen, dann wieder stark
ziselierten Faktur sind die Partien der Gesangssolisten: Otto
Katzameiers Bassbariton liess mit orgelhafter Tiefe, Eva
Olitványi mit innigem Sopran aufhorchen, und beide waren
grossartig gestaltende Übermittler musikalischer Botschaften,
geheimnisvoll und vehement in Wort und Ton, deren tiefe
Verschränktheit zu den Hauptqualitäten dieses Werks gehört.
Dem Panorama interpretatorischer Aspekte entspricht das der
Komposition – der souveräne und mit restloser Identifikation
agierende Dirigent Peter Kennel als Vermittler dazwischen.
Welch eine Palette, die hier mit grossem dramatischem
Spürsinn in einen zugleich überraschenden und doch
zwingenden Verlauf von Übergängen und Kontrasten gebracht
ist! Das betrifft zunächst die Abfolge der Sätze, etwa im
Wechsel vom turbulenten zweiten zum dritten, vom Allegro
con brio, in dem vor einem «der Dachfirst selbst zu tanzen»
scheint, zum dichten Adagio, in dem nur Sopran und Streicher
zum Einsatz kommen.
Wenn hier aber im schwebenden Lyrismus («Tief im Innern
diese neue Liebe») dann plötzlich ein devisenhaft gerufenes
«Stirb!» herausbricht, zeigt sich beispielhaft, wie im
Binnenleben der Sätze Kontraste wirken und wechselseitige
Ausdruckssteigerung bedeuten. Grandios im Schlusssatz die
Entwicklung vom rhythmischen Ostinato des Chors («Ich will
ins Zentrum des Feuers dringen») zur wilden Entfesselung im
Molto agitato, aus dem sich ein gestanzter Tanzrhythmus
herauskristallisiert und, sich beruhigend, das Terrain für den
grossflächigen A-cappella-Chorsatz bereitet.
Ja, und dann folgt bald die kurze Finalsteigerung, ein
Crescendo samt grossem Beckenschlag, das in den reinen
Es-Dur-Akkord mündet: Und hier, gerade hier, in der
verbotensten Tabuzone der Moderne, beglaubigt sich Felders
Musik in der Wirkung eines kompositorisch umfassend
«erarbeiteten» und im Ausdruckswillen erfüllten Schaffens.
„Atesh“
8. Januar 2007
Quellen jenseits der kulturellen Grenzen
Sein grosses Werk für Solisten, Chor und Orchester wird in
Zürich urauf-geführt – Alfred Felder, der Winterthurer
Komponist und Musiker mit Luzerner Wurzeln, über
«Atesh» und was für ihn Komponieren heisst.
WINTERTHUR – An seinem Arbeitstisch, die Bibliothek im
Rücken, schreibt Alfred Felder in den Morgenstunden bis
gegen Mittag Noten. Obwohl eben die Uraufführung seines
Chorwerks «Atesh» auf Texte des persischen Dichters
Moulana Dschalaluddin Rumi (1207–1273) bevorsteht und er
häufig an den Proben anwesend ist, auch noch Retuschen
anbringt, konzentriert er sich bereits auch schon auf sein
nächstes grosses Projekt. Im Auftrag des Musikkollegiums
schreibt er einViolinkonzert, das im Dezember aufgeführt
werden soll.
Selbstverständlich ist es nicht dieses Hin und Her zwischen so
unterschiedlichen Werkideen, denn Komponieren heisst für
Felder Hören und die Arbeit, das Gehörte zu notieren. Also
braucht es die Ruhe, damit sich die Klänge im Inneren
entfalten können. Die Partituren in der Komplexität und
Differenziertheit des Instrumentariums und der musikalischen
Werte von Melodie, Harmonie und Rhythmus lassen ahnen,
dass dieses Notieren alles andere als ein einfaches Diktat ist.
Alles Wissen, alle Erfahrung eines nun schon
jahrzehntelangen Schaffens ist dabei mit im Spiel. 45 Werke –
vor allem Kammermusik und Orchesterwerk – registriert ein
offizielles Verzeichnis, viele davon publiziert bei der
Schweizerischen Musikedition und anderen Verlagen.
Mehr als Bücherwissen
Das Gespräch über die bevorstehende Uraufführung, das Mitte
Dezember stattfand, zeigte, dass die Voraussetzungen für ein
neues Werk für Alfred Felder noch in ganz anderen Bereichen
als den rein musikalischen liegt: «Ich befasse mich immer sehr
intensiv mit dem Thema. Ich habe nicht nur Rumis Werke und
zahlreiche Bücher über ihn und sein Umfeld gelesen, sondern
auch Zugänge gesucht, die persönliche Erfahrungen
ermöglichen. So bin ich seit anderthalb Jahren aktiv im
Mevlevi-Orden, dem Orden, den Rumi gegründet hat und der
auch in der Schweiz einen Ableger hat.» Ähnliches war von
Felder zu berichten, als er 2000 in Winterthur sein Trio «The
Second Attention» uraufführte, das eine Schamanentrommel
mit einbezieht. Auch da handelt es sich nicht nur um
Bücherwissen, sondern um ein persönliches Eintauchen in
schamanische Praxis.
Auf die Welt des persischen Dichters und Mystikers Rumi ist
Felder nicht im Osten und nicht durch historische Studien
gestossen, sondern – und das ist vielleicht typisch für einen
wirklichkeitsnahen und zeitverbundenen Menschen – durch
einen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift. Es war ein
Bericht über den Lyriker Coleman Barks (*1937), der es als
Erster geschafft hatte, mit einem Lyrikband, die Bestsellerliste
anzuführen. Bei den Versen handelte es sich um
Übersetzungen beziehungsweise Nachdichtungen, die er unter
dem Titel «The Essen-tial Rumi» veröffentlicht hatte. Fel-der
beschaffte sich dieses Buch und war fasziniert von dieser
Dichtung, die für ihn «spannend war wie ein Krimi und alles
umfasst, Leben und Tod, Weltliches und Religiöses, einfach
alles.»
Das war Jahre vor dem Auftrag zum Chorwerk, den er 2003
erhielt und für den Felder zunächst auch noch ganz andere
Themen, vom «Vaterunser» bis Dürrenmatt, in Erwägung zog.
Die Wahl des islamischen Dichters hatte dann durchaus auch
mit aktuellen Befindlichkeiten in den Jahren nach dem 11.
September zu tun: An Rumi beeindruckt Felder gerade «die
über alle kulturellen Grenzen hinausgehende Wirkung». Schon
an seinem Begräbnis seien Vertreter aller Religionen
anwesend gewesen, Rumi habe eine unglaubliche Toleranz
ausgestrahlt und Offenheit auch gelebt, erzählt er. Dass die
Uraufführung nun ins Jahr von Rumis 800. Geburtstag fällt
und damit zusätzliche Aktualität erhält, ist dagegen nicht mehr
als ein glücklicher Zufall.
Leben und Tod
Schamanistische Erfahrungen, mystisches Gedankengut, Islam
– damit ist ein weiter geografischer, aber auch historischer
Kreis angedeutet. Aber als Innerschweizer hat Felder auch
«die katholische Religion sehr intensiv erlebt», zum Beispiel
ihre Gebetsrituale. Mystik als «Versuch, sich mit dem
Göttlichen zu verbinden», versteht Felder als Quelle aller
Religionen. So weit die Kulturkreise auseinanderzuliegen
scheinen, mit denen er sich beschäftigt, was ihn bewegt, ist
immer dasselbe: «Woher kommen wir und wohin gehen wir,
was bedeutet Leben?» Texte über Leben und Tod sind es denn
auch, die er aus der riesigen Fülle von Rumi-Versen
ausgewählt hat: «Die ganze Komposition ist so angelegt, dass
sie Leben und Tod verbindet.»
Die Auswahl der Texte für die fünf Sätze des Werks war ein
schwieriger Prozess. Es galt in der Fülle die Stellen zu finden,
die als Kondensate auf das Ganze verweisen. Hinzu kamen
Fragen der Übersetzung. Der Komponist, der mit der Sprache
des Originals nicht vertraut ist, stand zwischen den
wissenschaftlichen Übersetzungen des Rumi-Spezialisten
Johann Ch. Bürgel, den poetischen Übersetzungen von
Annemarie Schimmel und denjenigen von Coleman Barks. An
vielem hat Felder für sein Komponieren nicht zuletzt auch
selber gefeilt.
Ney – die Rohrflöte
Wie aber kommt die Musik ins Spiel? Zum Anfang von
«Atesh» erzählt Felder: «Rumis grosses Lehrgedicht
‹Mathnawi›, das auch als persischer Koran bezeichnet wird,
beginnt mit der wunderbaren Geschichte der Rohrflöte. Der
Hirte, der sie spielt, fragt, warum sie immer so melancholisch
klinge. Die Flöte sagt: Weil ich Sehnsucht nach dem Platz
habe, wo ich herkomme. Du hast mich vom Schilf am Wasser
weggeschnitten. Darum wirst du nie einen fröhlichen Klang
von mir hören.»
In manchen Kompositionen hat Felder zusätzlich zu den
klassischen ungewöhnliche Instrumente verwendet, metallene
Klangobjekte («Klangkugeln»), ganz einfach Steine oder auch
eine Schamanentrommel (im Klaviertrio «The second
attention»). Hier aber, wo er das Tonhalle-Orchester zur
Verfügung hat, stand für ihn fest, dass er auch ausschliesslich
für diesen hoch qualifizierten Klangapparat schreiben wollte –
bezüglich des Instrumentariums, aber auch der
Anforderungen, die an ihn gestellt werden können. So beginnt
«Atesh» nicht mit einer Bambusflöte, nicht mit einem
exotischen Instrument, der «Ney», wie sie im «Mathnawi»
heisst, sondern mit einem «freien Lied» des Englischhorns,
das diesem Sehnsuchtsklang am besten entspricht. Überhaupt
wollte Felder keine orientalische Musik schreiben: «Ich habe
mich ganz bewusst dagegen entschieden, weil ich schreiben
wollte, was ich höre und wie meine Musik klingt.» l
Fünf Sätze zum «Zentrum des Feuers»
Alfred Felders Komposition «Atesh» für Sopran, Bariton,
gemischten Chor und grosses Orchester nach Gedichten von
Moulana Dschalaluddin Rumi (1207–1273) besteht aus fünf
Sätzen: «Diese Welt ist ein Traum!», «Wenn sie am Tag des
Todes» (im Konzert gestrichen), «Ich bin Rausch, der
Liebeswein», «Ruhe – Khamush» und «Im Zentrum des
Feuers». Der Begriff «atesh» ist mit Feuer, Lebensenergie,
Wahrheit, aber auch Läuterung zu übersetzen.
Textauswahl und Musik versuchen, Rumis Existenz im Wesen
zu erfassen: «Sein ganzes Werk ist ein ständiges Kreisen um
die Geheimnisse der Liebe und ein ständiger Versuch, sich
Gott zu nähern.» (Felder). Für Rumi waren in diesem
Zusammenhang Musik und Tanz von grosser Bedeutung, er
gilt als Begründer des Rituals der «drehenden Derwische»:
Musikalische Kreisbewegungen spielen in «Atesh» denn auch
eine grosse Rolle. Die Einleitung, ein liedhaftes
Englischhornsolo bringt die Sehnsucht nach dem Ursprung
zum Ausdruck. Das Traumartige der Welt äussert sich etwa in
Flageolett- und Vibrafonklängen. Ein leises Motiv gedämpfter
Trompeten und Hörner verweist auf eine «andere
Wirklichkeit», die sich im Tod, der ein Erwachen bedeutet,
auftut.
Im dritten Satz, auf Verse, die sich Rumi auf seinen Sarg
schreiben liess, entfaltet sich eine rauschhafte Musik in
ekstatischen Rhythmen der Schlaginstrumente, in
Chorstimmen, die im langsamen Glissando «taumeln», in
kreisenden Streicherfiguren und in der Klangfülle des
gesamten vokalen und orchestralen Apparates. Im Kontrast
dazu steht der vierte Satz (Adagio) in seiner Beschränkung auf
Solo-Sopran und Streicher im Zeichen der Ruhe: «Khamush»
– für Rumi ein zentraler Begriff.
«Das überwältigende Verlangen, berauscht zu werden durch
die Wärme und Nähe des Göttlichen»: Der fünfte Satz, «Im
Zentrum des Feuers», reflektiert das Geschehen der
vorausgegangenen noch einmal: Er beginnt «molto agitato»
und gibt dem Bariton eine geradezu theatralische Präsenz, die
den Chor mitreisst. Aber das «Ich will» zielt auf die Negation
des Ichs («mich dürstet’s nach meinem eigenen Blut»), die im
Zentrum des Feuers erreicht wird: Das Partiturbild zeigt
höchste Verdichtung (molto agitato) und Auflösung, die zu
einem Choral (a cappella) führt. In einer letzten Steigerung
wird die Quintessenz des Geschehens in einer Harmonie des
«liebe – lebe» aufgelöst: «Nur Liebe, nur Liebe, wir haben
sonst kein Werk» – mit diesem Zitat «unterschreibt» Alfred
Felder seine Partitur. (hb)
Ein Ekstatiker: 800 Jahre Rumi
Den Dichter und Mystiker Moulana Dshalaluddin Rumi
beanspruchen heute mehrere islamische Länder für sich und so
gibt es auch abweichende Schreibweisen des Namens.
Geboren wurde Rumi, dessen Geburt sich dieses Jahr zum
800. Mal jährt, als Sohn eines Predigers in Balch im heutigen
Afghanistan, damals persisch. Seine Familie floh vor den
Mongolen über Mekka und Damaskus nach Konya in der
heutigen Türkei. Nach dem Tod seines Vaters erhielt er dort
dessen Lehrstuhl für Theologie. Er starb 1273. Sein
Hauptwerk ist ein monumentales Lehrgedicht, das
«Mathnawi», das alles im 13. Jahrhundert bekannte christliche
und islamische mystische Gedankengut umfasst. (hb)
„The Second Attention“
15. Dezember 2000
Trio mit Schamanentrommel
Er ist in Winterthur ein bekannter Cellist und Lehrer, als Komponist ist er an
anderen Orten mehr zu Hause: Alfred Felder.
«Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf der Erde, als die
Schulweisheit sich träumt» («Hamlet») – wir wissen es alle,
aber es gibt Menschen, die mit diesen Dingen näheren
Umgang pflegen als andere. Zu ihnen gehört der
Winterthurer Cellist und Komponist Alfred Felder. Am
Sonntag führt er, zusammen mit seinen Triopartnern Pär
Näsbom (Violine) und Junichi Onaka (Klavier) in einem
Konzert des Musikkollegiums ein eigenes Stück auf, das von
solchen «anderen Wirklichkeiten» handelt: «The second
attention» betitelt er die Komposition nach dem
schamanischen Begriff für die Erfahrung «anderer
Wirklichkeiten» oder, wie sie auch genannt wird, die
«Bewusstseinsreise».
Im Gespräch mit Alfred Felder steht im Vorfeld dieser Uraufführung das Thema
Schamanismus natürlich im Vordergrund, gerade für den, der hier wenig
Vertrautem begegnet. Aber vorauszuschicken ist, dass das Schamanische
weder zu Felders Musik noch zu seiner Persönlichkeit einen ausschliesslichen
Zugang bildet und er sich durchaus auf einer gewöhnlichen mitteleuropäischen
Skala bewegt, als sanfter und freundlicher Mensch freilich im oberen Bereich.
Das wird bestätigen, wer ihn kennt, und das sind allein in Winterthur viele.
Geboren ist Alfred Felder 1950 in Luzern, wo er auch das Konservatorium
absolvierte. Die weitere Ausbildung führte ihn nach Salzburg, die Mitgliedschaft
bei den Festival Strings Lucerne (1977–1983) zurück in die Heimatstadt. Als
Solist und Kammermusiker ein Weitgereister, war es die aus den USA
stammende Bratschistin Linda Felder-Hurd, seine Frau, deren Stelle im
Orchester des Musikkollegiums ihn nach Winterthur führte. Seit 1981 ist Alfred
Felder hier am «Konsi» Lehrer für Violoncello. Daneben entsteht ein vielfältiges
kompositorisches Werk, etwa dreissig fast ausschliesslich instrumentale
Stücke, Solistisches, Orchester- und Kammermusik, zählt er bis jetzt zum
gültigen Bestand. Die Tonhalle-Gesellschaft, die Zürcher Kammersolisten, die
Festival Strings gehören zu seinen Auftraggebern, Werke von ihm sind u.a. in
Japan, den USA, Russland, England usw. gespielt worden. Zum ersten Mal
kommt es jetzt mit dem für sein Trio geschriebenen neuen Stück zu einer
Uraufführung in einem Konzert des Musikkollegiums. Bei verschiedenen
Verlagen erschienen sind von ihm Kompositionen für Kinder und Jugendliche.
«Wasserspiele» wurde mit dem Preis der European String Tea- chers
ausgezeichnet. Zwei CDs mit seinen Werken sind bei Gallo erschienen.
Schamanische Tätigkeit
«The second attention»: Spricht man Alfred Felder darauf an, wird schnell
deutlich, dass da einer nicht nur mit Ideen liebäugelt, die vielleicht gerade en
vogue sind, sondern von konkreten Erfahrungen spricht. Es ist ein von allem
geheimnistuerischen Raunen freies Reden, und gerade dies macht es
unverfänglich, wenn er von seinen «nichtalltäglichen» Erlebnissen erzählt, von
der Empfindung der Beseeltheit aller Dinge, von der Zwiesprache mit
Geisteswesen, von der spirituellen Bewusstseinserweiterung, die er im Kreis mit
schamanisch Tätigen an einem abgelegenen Ort in der Schweiz, im tagelangen
Aufenthalt in einer Höhle etwa, «praktiziert» hat. Die Distanznahme von der
Rationalität unserer Zivilisation, die solche Erfahrungen zwangsläufig ebenfalls
bedeutet, möchte er nicht als Rückkehr zu einer Menschheit «wie vor
zehntausend Jahren verstanden wissen», aber sie vertieft zum Beispiel den
Schmerz über das, was in dieser Zivilisation geschieht, die Zerstörung der Natur
etwa, und sie schliesst auch die Hoffnung ein, dass aus der «Vereinigung mit
den Kräften des Universums» auch Kräfte fliessen, die das unheilvolle
Geschehen heilend beeinflussen. Esoterik? New Age? Die «Schubladen» lehnt
Felder ab, auch deshalb, weil er den technischen Fortschritt der Gesellschaft
für nicht weniger wichtig hält als spirituelle Erfahrung. Aber um die Offenheit
dafür, um Offenheit überhaupt – wir seien zu sehr immer auf ein Ziel gerichtet, statt
mit allem in Verbindung zu stehen, meint er – geht es ihm in der Musik.
Offenheit
Offenheit, das zeigt sich im Gespräch über die neue Partitur, meint
beispielsweise, dass die Notation nicht alles fixiert, sondern ein Moment der
Improvisation einschliesst: Dazu gehören die Passagen ohne Taktstriche, die
Verläufe, deren Dauer nicht im Voraus bestimmt ist, Glissandi, die im
Tonhöhenverlauf eine gewisse Freiheit bedeuten, oder dann der Einbezug von
Klängen, die überhaupt tonmässig weniger fixiert sind: Maracas, Schellen,
Gong und Trommel. Diese zusätzlichen Instrumente – zum Einsatz kommt
eine originale Schamanentrommel – gehören zugleich auch charakterisierend
in den schamanischen Zusammenhang des Stücks. Haben die Musiker keine
Mühe damit, ihre angestammten, ihnen mit allen Finessen der Spieltechnik
und Musikkultur vertrauten Instrumente mit einem im eigentlichen Sinne
«primitiven» Klangerzeuger zu vertauschen – ein Vorgang, der eigentlich dem
Gang des modernen Schamanen in die Höhle zu entsprechen scheint? Felder
macht diesbezüglich immer die gegenteilige Erfahrung, so beispielsweise auch
bei der Uraufführung der «Elemente vier Tonbilder für Orchester» (1999) mit
einem ganzen Orchester, der Schweizer Kammerphilharmonie, und auch jetzt
erlebt er von seinen Triopartnern nur Offenheit gegenüber den ungewohnten
Spielanweisungen. Entscheidend ist für ihn im Übrigen nicht nur die mögliche
symbolische Bedeutung dieser Zusatzinstrumente, sondern auch der
spezifische Klang an und für sich, den er sucht und nur mit ihnen erreicht.
Der Klang vor allem
Offenheit bedeutet eben auch, dass der programmatische Aspekt dieser Musik,
sozusagen die Nachzeichnung der Bewusstseinsreise, nicht so bestimmend sein
möchte, dass er das Hörerlebnis auf bestimmte Vorstellungen festlegt. Zwar
finden sich neben den klassischen Tempobezeichnungen über den sechs
pausenlos ineinander übergehenden Sätzen Überschriften, die diesen
Zusammenhang andeuten (die Reise, die nichtalltägliche Wirklichkeit, das
Nachdenken/ die Widerspiegelung, der Jäger, das Spirituelle, der Weg des
Herzens); zwar bringt der letzte Satz eine Melodie, die Felder von Schamanen
gesungen gehört hat, und schliesslich war es ihm auch ein dringendes
Bedürfnis, die Erfahrung der «second attention» einmal musikalisch zu
reflektieren. Aber das alles sollte vor der Gegenwart des Klanggeschehens
zurücktreten oder im Klanggeschehen selber zum Erlebnis werden. Dafür
wünscht sich Alfred Felder offene Hörer, denn: «Sich vom Klang mitnehmen
lassen, ist alles».